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Untitled (12th Istanbul Biennial) - Antrepo upper floor, Antrepo 3: Territoriale Streifzüge, Szenarien des Kriegs und Genderfragen

Allmählich erschließt sich die Istanbul Biennale flüssiger. Die Leitmotive der Ausstellungskapitel im oberen Bereich des ehemaligen Lagers Antrepo 5 heißen „Untitled“ (Passport) und „Untitled“ (Ross). Also staatliche Grenzziehungen und das zentrale Thema Staatsbürgerschaft und im anschließenden Teil dann Genderfragen mit Schwerpunkt Homosexualität. Ja, „Ross“ mag kryptisch klingen, doch Ross Laycock ist der Name des 1991 an AIDS verstorbenen Partners von Felix González-Torres. Eines der berühmten aus einer Pyramide eingewickelter Zuckerln bestehenden Werke von González-Torres bezieht sich auf eine Straße in L.A., wo der später ebenfalls an AIDS verstorbene Künstler mit seinem Geliebten lebte. Und es stellen sich zwei Fragen. Erstens: Diskursives Ping Pong wie im Eingansbereich oder fließend assoziative Reihung von Werken? Was funktioniert besser? Vergleichsweise dies hier. Schnell wird klar, dass es um Körper, Erotik, Begehren und natürlich Homosexualität geht. Okay, dann aber Frage Nummer zwei: Warum bringt eine Biennale derart viele bekannte Namen? Sind Biennalen nicht Orte experimenteller Neuentdeckungen? Endlos könnte man es debattieren. Die Kuratoren Adriano Pedrosa und Jens Hoffmann entschieden sich für einige Golden Greats of Gegenwartskunst im zentralen „group show“ Bereich. Für Kutlug Ataman, Elmgreen&Dragset, Tom Burr, Collier Schorr, Henrik Oleson oder für den Filmemacher Ira Sachs, der eine filmische Elegie für eine ganze Generation von New Yorker AIDS Opfern drehte. Man sieht die Fassaden von Gebäuden, in denen etwa Robert Mapplethorpe, Peter Hujar oder Keith Haring vor ihrem Tode lebten. Oder jenes, in dem Felix González-Torres seine letzten Tage verbrachte. Der im Libanon lebende Amerikaner George Awde zeigt zwei präzise inszenierte Fotografien junger Männer: in einem libanesischen Frisiersalon und in einem rosa ausgeleuchtetem Wohnzimmer. Ihrer kulturellen Umgebung entsprechend, wird deren Nähe zueinander nur in sensiblen Andeutungen zum Ausdruck gebracht. Collier Schorr porträtiert weibliche Paare in Deutschland, während Elmgreen&Dragset eine umfangreiche Serie von Aufnahmen ihrer Freunde in teils eindeutigen Posen bringen, und Kutlug Ataman Fotografien einer eingerissenen Matratze aus einer seiner vergangenen Beziehungen. In den umliegenden Kuben werden zumeist sehr subtil Identitätsfragen aufgeworfen: In den Fotowerken von Catherine Opie etwa, die Typen aus verschiedenen Communities porträtiert: Baseballer, Surfer, Tatoo-Männer zum Beispiel. Und dann endlich auch Brüche innerhalb des strengen Systems: Denn Kutulug Atamann oder Mona Hatoum kommen auch im Kapitel „Passport“ – also mehrfach – vor. Als Spuren, die sich auf einem Teppich abzeichnen formalisiert Mona Hatoum eine Karte von Landformationen, was im Widerspruch zu den politischen Grenzziehungen auf dem gleichen Terrain steht. Genial und – wie immer –mit einer gesunden Portion Ironie der tu?rkische Ku?nstlers Ahmet Ögu?t. Sein Werk „Perfekt Lovers“ bezieht sich auf die gleichnamige Arbeit von Felix González-Torres Während dieser unter einem Glassturz zwei synchron eingestellte Uhren präsentierte, die durch sinkende Leistung ihrer Batterien zunehmend ungleich liefen, zeigt Ögüt ein 2-Euro und ein 1-Lira-Stu?ck auf einem mit schwarzem Samt bezogenem Podest. Damit lassen sich etwa in Deutschland ohne Probleme Fahrkarten-Automaten u?berlisten. Ähnlichkeit der Form. Differenz auf der Ebene kultureller Wertvorstellungen. Sehr unterschiedlichen Übersetzungen von Themen wie Grenzziehung und Staatsbürgerschaft begegnet man ebenfalls. Der in Paris lebende palästinensische Künstler Taysir Batniji zeigt Fotografien von Wachtürmen im Gaza-Streifen im Stil von Bernd und Hilla Becher sowie eine Serie mit Aufnahmen jener in Geschäften hängenden Fotos, welche zumeist den Besitzer oder Gründer porträtieren; ebenfalls eine Recherche im Gaza-Steifen. Ja, und nach dem Wechsel in die gegenüberliegende Halle Antrepo 3 tauchen dann im Gebäude Orginale der Bechers auf. Auch eine Wiederbegegnung mit Martha Roslers Serie „bringing the war home“ steht hier an. Dass hier das Politische phasenweise auf bewaffnete Auseinandersetzungen reduziert vorkommt, hängt mit dem Thema „Untitled (Death by Gun)“ zusammen. In solchen Momenten übernimmt die Biennale Bildungs- und Informationsfunktion für das lokale Publikum. Die starken Werke aus neuerer Zeit scheinen aber jene zu sein, die expressiv wirken und nicht so eindeutig sind in ihrer Aussage. Zu den absoluten Highlights zählt die filmische Arbeit des Chilenen Camilio Yanez „Estadio Nacional 11.09.09 Santiago de Chile”. Man sieht das chilenische Nationalstadion als Arena nach dem Ende; dem Ende einer Vielzahl von Bedeutungen. Die extrem langsam fahrende Kamera zeigt den leeren Rasen und wild zusammen geschobene Sitzreihen. Krieg, Kampf, Schauspiel. Was war es? Dazu eine Coverversion eine Victor Jara-Liedes, „Luchin“ von Carlos Cabezas. Die Gitarre wie die Bilder scheinen in ungreifbarer Zeitlupe eine kaum fassbare Geschichte zu durchstreifen. Pablo Neruda oder Fidel Castro traten hier ebenso auf wie Papst Johannes Paul II. 1973, unmittelbar nach dem Putsch, jedoch, waren hier aber auch mehr als 40 000 Menschen unter Bewachung des Militärs gefangen gehalten worden. Eine Arena der Zeitgeschichte mit den Spuren von Zynismus und Grausamkeit. Solche Werke zwingen das Publikum geradezu zum Innehalten. Der kunstideologische Überbau der Istanbul Biennale tritt hier zurück. Manches, das anderswo allzu konstruiert daher kommt, scheint hier vergessen. Denn gelegentlich wirkt sie wirklich zu holprig diese Biennale und die Werke zu sprunghaft aneinander gereiht. Doch immerhin ein mutiger Versuch, das gesamte Konstrukt der Ausstellung unter die Paradigmen der Denkweise eines einzigen Künstlers zu stellen. Zurück bleibt aber auch der Eindruck einer Legitimationsstrategie, um politisch orientierte Kunst in einen plausiblen Rahmen zu pressen.
Mehr Texte von Roland Schöny

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Untitled (12th Istanbul Biennial) - Antrepo upper floor, Antrepo 3
17.09 - 13.11.2011

Istanbul Biennale
Istanbul,
http://14b.iksv.org


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