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Istanbul Biennale: Im Zeichen Bertolt Brechts

Eine extreme Gratwanderung beschreitet die 11. Istanbul Biennale. Auf dem Spruchband steht der Songtitel "What Keeps Mankind Alive" aus Brechts Dreigroschenoper. Dementsprechend versprühte das kroatische Kuratorinnenkollektiv WHW bestehend aus Ivet Curlin, Ana Devic, Nataša Ilic und Sabina Sabolovic im Vorfeld Glamour im Stil der der 1920er Jahre. Bald stellte sich daher die Frage, mit welchen visuellen Sprachformen und Grammatiken WHW auf die ökonomische Weltlage, die zynischerweise erst 2007 den Namen „Krise” erhielt, antworten. Klar war: Die Symbole müssen zum Tanzen gebracht werden. In einem emanzipatorischen Sinn. In Fortsetzung der Dynamik bisheriger Istanbul Biennalen. Vor der Folie einer bebenden Megacity, die nicht Patchwork, sondern zum Zerreißen gespanntes Flickwerk ist. Ein Ort ineinander verschachtelter Stadtteile und Lebensentwürfe, dessen rhizomorphe architektonische Wucherungen die ökonomischen Gegensätze mit ihren schwindelerregenden Lohn- und Preisdifferenzen dramatisch spiegeln, während die Zeichensprachen islamischen Alltags und türkischer Szenen hautnah miteinander in Berührung treten. Hier explizit sozioökonomisch grundierte Kunstformen zu forcieren, erscheint ebenso logisch wie überhaupt die Vielfalt der Spielformen der Gegenwartskunst zu positionieren. Allerdings führt dies zu Rissen und Polarisierungen. Zu linear, formal monoton und wie visuelle Lehrstücke wirken die Ausstellungsteile in den Außenstellen Tütün Deposu, einem ehemaligen Tabaklager und der 2003 aufgelassenen Schule Feriköy Rum Okulu. In der zentralen Schau im Lager Antrepo No. 3 – neben dem Museum Istanbul Modern nahe der Galata Brücke – dagegen wurde ein ausdifferenziertes Netz formal unterschiedlicher Positionen kritischer Kunst zu einer konzentrierten Ausstellung gebündelt, die dazu verführt, thematische und semiotische Spuren von verschiedenen Knotenpunkten aus zu verfolgen. Auf Methoden der Kartografie zurückgreifende und kritisch politische Realitäten entschlüsselnde Werke, wie von Marko Peljhan (SLO) oder dem bureau d'études (FR), werden konterkariert durch eine Installation der argentinischen Gruppe „Etcétera...“ (Loretto Garin Guzman, Federico Zukerfeld), die – wie einstmals Peter Sloterdijk in seiner Kritik der zynischen Vernunft die Kardinalzynismen der Aufklärung – das Errorist Kabarett (2009) als begehbare Dada-Installation vorführt: ein kabarettistisches Figurentheater in einer historischen Raumgeografie. Neben Philosophen, Revolutionären und Pionieren der Wissenschaft wie etwa Sigmund Freud tritt darin etwa auch George W. Bush Jr. auf. Liebevoll, witzig wirkt ein mehrteiliges Werk der libanesischen Künstlerin Mounira Al Solh (RL). In einer Videoinstallation lässt sie mit Frauenstimmen synchronisierte Männer, vor dem von Betonbauten und Felsen zerklüfteten Strand Beiruts über ihr tägliches Schwimmvergnügen sprechen. Ein ethnographischer Blick auf Körperkult und Männerfreundschaft ergänzt durch Fotografien und eine Collage, die wie ein dreidimensionales Storyboard die Orte der Aktion präzise bezeichnet. Dies wiederum in einer Sektion, die über Gender, Emanzipation und Arbeitsverhältnisse (von Frauen) lesbar ist. Darunter eine Fotoserie Hans Peter Feldmanns (D), die 50 Jahre der Oberfläche eines konventionellen Frauenlebens aufzeichnet oder Ausschnitte aus dem Werk Michel Journiacs (F) und als weiteres Highlight Canan ?enols (TR) Animationsvideo „Ibretnüma / Exemplary” (2009). Figuren wie in einem Guckkasten, teils wie aus einem Ausschneidebogen aus Tausend und einer Nacht wie auch aus billigen Modemagazinen kommentieren Rollenzuschreibungen und Paradigmen der Unterdrückung der türkischen Frau. Dies alles wird ergänzt durch zahlreiche historische filmische Werke. Genau so eröffnen sich spannende Denkmöglichkeiten auf der gegenwärtig umkämpften Biennale als Plattform für Verschneidungen des Ästhetischen mit dem Sozialen.
Mehr Texte von Roland Schöny

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Istanbul Biennale
12.09 - 08.11.2009

Istanbul Biennale
Istanbul,
http://14b.iksv.org


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