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Über Spalten und Wert

Zur Dialektik im Denken und in Skripten Sie ist sehenswert, die Ausstellung über das »Original« im Literaturarchiv in Marbach am Neckar. Genauer heißt sie »Der Wert des Originals«. Vitrinen schweben wie lichthaltige Inseln in den Betonhallen des in den Berg eingelassenen Gebäudes. Darin sind Preziosen aus der Literatur- und Geistesgeschichte ausgebreitet. Viele stammen aus den Annalen der Sammlung, gewürzt mit sehens- und lesenswerten Leihgaben von anderswo. Es sind Absonderlichkeiten und vermischte Miniaturen, versammelte Horsd’œuvres deutschen Denkens und Dichtens. Neben einem selbstgebastelten Rad von Karl Valentin, das einzige ärztliche Attest, das Schiller ausgestellt hatte – ein hoch dosiertes Abführmittel –, eine Version der »Ursonate« von Kurt Schwitters, eine vertrocknete Fledermaus von Ernst Jünger, ein beschriebenes Bergahornblatt von Peter Handke und vieles andere mehr. Unter den kuriosen Schaustücken befindet sich eine Manuskriptseite Hegels, in der er über das Verhältnis des Besonderen zum Allgemeinen nachdenkt. Es geht um die Grundbegriffe der Dialektik am Beispiel der Urteilskraft. Das Blatt ist dicht beschrieben. Nichtsdestoweniger optisch beachtenswert. Hegel hatte es in der Mitte senkrecht geteilt; – so ähnlich wie für Schularbeiten. Er achtete darauf, nur die rechte Kolumne zu beschreiben, die linke Spalte diente ihm als Füllraum, sollte ihm ein noch unbedachter Gedanke während der Vorlesung zufallen. Es geht um das Hin- und Herdenken, um Beziehungen, die sich im Wechselspiel der Argumentation entwickeln. „Das Urtheil ist die Beziehung zweyer Begriffsbestimmungen aufeinander, da die eine sich als Einzelnes zu einer anderen als dem Besonderen oder dem Allgemeinen oder als Besondere zu dem Allgemeinen verhält (...)“ (G.W.F. Hegel, „Urtheilskrafft“ für den Unterricht an der Uni Nürnberg, 1810). In dieser Passage tritt Dialektik weniger als Beweggrund des absoluten Geistes auf, denn als in sich verknotete gedankliche Figur und vor allem elegante grafische Lösung. Daneben, nur einen halben Meter entfernt, hochinteressant, liegt ein Manuskript des deutschen Kanzlers Bethmann Hollweg. Es ist der Entwurf eines Telegramms zur Kriegserklärung Deutschlands an Russland aus den tragischen letzten Julitagen 1914. Bethmann Hollweg bediente sich derselben Korrekturtechnik wie Hegel, jedoch nicht um neue Gedanken einzuräumen, sondern Zweifel und Missverständnisse auszuräumen. Es geht um Winkelzüge, um Rechtfertigung und präventive Schuldzuweisung. Dialektische Anspielungen sind für diese Botschaften nicht zulässig. Sie sind nicht nur diplomatisch inopportun, sondern qua Reichsmaxime ausgeschlossen, hatte doch Kaiser Wilhelm zum Burgfrieden ausgerufen, also zur Einebnung aller Differenzen für die gemeinsame deutsche Kriegsanstrengung. Was danach kam, ist bekannt: ein Desaster in polarisierender Freund-Feind-Rhetorik. Doch zurück in die Gegenwart. Der Begriff „Dialektik“, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankfurt große Schule machte, war eigentlich schon lange nicht mehr zu hören. Er zeigt sich wieder. Das überrascht. Umso mehr, wenn der träge Kunstbetrieb einhakt. Schaden kann es nicht, sich des Andersartigen, negativ Schlummernden, Widerborstigen zu besinnen. Doch bräuchte es eine Neuerung, ein Update der Hegelschen Doppelspalte, nicht nur von Žižek vorgetragen, sondern aus angewandten Denkdisziplinen. Zu danken ist dafür Isabelle Graw, die den Begriff kürzlich vor einer Menge von etwa 500 Kunstgeschichtler/innen wie selbstverständlich ins Spiel warf. Die Tagung der deutschen Kunsthistoriker/innen in Mainz behandelte den »Wert der Kunst«. Der Wert des Originals ist darin inbegriffen. Graw brachte den Terminus der Dialektik so natürlich als hätte das Denkgebilde nicht schon bessere Zeiten gehabt und nicht unter schlechten Konjunkturbedingungen gelitten. Ihrer Beobachtung zufolge geht es nicht um Spalten, sondern um Spaltungen, und zwar um solche, die fehlen. In Mainz wurde die künstlerische Individualität seit der Moderne befragt. Der Bohemien, so meinte Graw, sei heute nicht mehr romantisierbar. Das Gegenmodell zur gesellschaftlichen Konvention ist aber weiterhin gefragt, ja noch mehr, geradezu zum breiten gesellschaftlichen Ziel gegoren. Waren Künstler ehedem Außenseiter, so wollen es heute alle sein. Der Optimierungsdrang treibt Individuen in die alternative „Besonderung“. Doch weil jede/r sich zur Selbstformung zwingt, droht unweigerlich die Deckungsgleichheit, oder mit Hegels Worten das konturlose Aufgehen im Allgemeinen. Die Urteilskraft ist dahin, auch das Hin und Her zwischen Besonderen und Allgemeinen. Was original ist, ist keineswegs mehr originell. Vielleicht wäre heutzutage wirklich besonders, wer sich die linke Spalte offen hält. Ein Denk- und Handlungsspielraum wäre zumindest frei. -- „Der Wert des Originals“, Deutsches Literaturarchiv Marbach, 3.11. 2014–13.9.2015 „Der Wert der Kunst“, XXXIII. Deutscher Kunsthistorikertag, Universität Mainz, 24.3.-28.3.2015

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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