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Schorske

Sein 1980 im amerikanischen Original, zwei Jahre später dann auf deutsch erschienene Kulturgeschichte „Wien - Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle“ hat entscheidend zum Boom des Wien um 1900 beigetragen, der die 1980er bestimmte und auf seine Art immer noch anhält. Carl Emil Schorske, Jahrgang 1915, war, so sah es aus, in der Restphase seiner produktiven Jahre angekommen, als er sein Werk zusammenstellte. An diesem Sonntag wird er nun hundert Jahre alt. Wie sein Opus Magnum verkörpert er die Anhaltendheit dessen, was ein wissenschaftliches Leben darstellt. Carl Emil Schorske bei einem Besuch im Leopold Museum anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerschaft der Stadt Wien, 2012. Foto: Leopold Museum/APA-Fotoservice/Schedl Auch schon wieder mehr als zwanzig Jahre ist es her, dass ich Carl E. Schorske zu einem Gespräch traf, im Wiener Hotel Erzherzog Rainer. Er war in der Stadt, um aus Anlass eines Symposions zu sprechen, das sich um die „Ägyptomanie“-Ausstellung des Kunsthistorischen Museums rankte. Als eine Hommage an den großen Gelehrten zu seinem Geburtstag im folgenden Auszüge aus dem Interview, wie es damals im „Standard“ publiziert worden ist. RM: Geht Ihnen die Identifizierung mit Ihrem Wien-Buch eigentlich auf die Nerven? Schorske: Ich war kein Spezialist für Wien und bin es nie geworden. Der modernen Kultur Europas gilt mein besonderes wissenschaftliches Interesse. Wien war ein guter Ansatz, der Frage nachzugehen, was ist modern und wie verhält es sich zur Tradition. Sie verweisen auf Ihre intellektuelle Biografie, die Herkunft aus der akademischen Tradition der 50er Jahre, im Vorwort des Wien-Buches. Gibt es auch einen konkreten biografischen Anlass, Ihre deutschen, Ihre jüdischen Vorfahren? Dass ich mich mit der deutschen Vergangenheit, etwa in meinem Buch über die SPD, beschäftige, ist sicherlich über meine Abstammung zu verstehen. Mein allererstes kleines Buch hieß „The Problem of Germany“. In Ihrem Werk über Wien spürt man eine leise Trauer über das Ende der liberalen Welt. Haben Sie, gesetzt, es stimmt, dass auch Historiker sich an die klassischen literarischen Gattungen halten, eine Tragödie verfasst? Ich denke, nein. Für mich ist dieser Gegensatz von Frühling und Herbst entscheidend, der Frühling der Secession, Ver Sacrum, der im Herbst eines Zeitalters stattfand. Frühling und Décadence. Beide vollzogen sich simultan. Zusammen charakterisieren sie das Jahrhundert. Ist Wien die Hauptstadt des frühen 20. Jahrhunderts für Sie? Nein. Sicher war Wien eine wichtige Stadt, aber in zentralen Bereichen, der Malerei etwa, hat es nicht viel geleistet. Das Besondere an Wien ist doch, dass alles sich so schnell entwickelte. Der Liberalismus war, nach der 48er Revolution, kaum an der Macht, da wurde alles wieder in Frage gestellt. Wien war eine Verwaltungsstadt, die sich plötzlich in eine Stadt der freischwebenden Intelligenz verwandelte. Es war gewissermaßen ein doppelter Schock. Es entstand die Intelligenzija, und schon war sie wieder obsolet. Finden Sie diese Erfahrung des Schocks auch noch für unsere Gegenwart zentral? Schock ist immer aktuell. Und er ist fundamental urban. Ich hatte eine Reihe von tiefen kulturellen Schocks, gerade natürlich durch die Nazis. Eine ähnliche Erfahrung machte ich, als ich in den Jahren 1964/65 in Berkeley lehrte, wo die studentische Aufbruchsbewegung ihren Anfang nahm. Ich war damals auf der Seite der Studenten engagiert. Kurze Zeit später wurde aus der politischen Revolte eine kulturelle. Die sexuelle Revolution kam auf den Weg. Das schockierte mich tief. Sie verstanden sich als Linker? Natürlich, und nach wie vor. Doch mit einer gewissen Multivalenz. Nachsatz: An diesem 27. Oktober 1994 durfte ich abends dann auch noch Ernst H. Gombrich zum Gespräch treffen. Ein Tag der langen Dauer.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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