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Selbstporträt mit Flusspferd

Ineinander verknallt, wie sie sind, laufen sie nachts die Straße hinunter und hören dem Nachbarn beim Schnarchen zu. Der ist so etwas wie der Schutzengel des Unternehmens frische Liebe, und das braucht es auch: „Wir müssen in kürzester Frist eine Gründungsgeschichte aus dem Boden stampfen, auf die wir uns in Zukunft berufen können.“ Ziemlich distanziert zu sich, dieser Erzähler, fast ein wenig cool. Arno Geigers neuester Roman reiht sich in ein Genre ein, das man auf gut deutsch Coming-of-Age nennt. Das bringt mit sich, dass es bei den Hauptdarstellern mit dem Hirn nicht ganz so weit her ist wie mit anderen Partien des Leibes, doch der Autor weiß sich zu behelfen, indem er seinem Ich-Erzähler Julian zehn Jahre Abstand gibt. Von heute, 2014, erzählt er eine sommerliche Episode von 2004 nach, ein wenig aufdringlich garniert von den Ereignissen um das Schulmassaker in Beslan und der unausweichlichen Betroffenheit darüber, für die Geiger entsprechend Sätze der Betroffenheit findet. Das ist aber schon das schwächste an diesem ansonsten in aller Meisterschaft formulierten Stück Literatur der Beiläufigkeit. „Phänomenologie“ hat Herder vor 250 Jahren eine solche Ästhetik der Selbstverständlichkeit, der Evidenz und der Profanität genannt. Was wäre geeigneter als Guide durch diese Welt des Kreisens um die eigene Genügsamkeit als ein Nilpferd: Hippopotamus, phänomenal, namenlos, sich und seiner Verdauung hingegeben, der Kompagnon fürs Jahr, der einem Professor für Tiermedizin den Swimming Pool bevölkert. Weil der aber im Rollstuhl sitzt, braucht man einen Pfleger, einen Studenten, der das Ganze dann auch Revue passieren lässt. Das ureigene Spiegelstadium eines 22jährigen bekommt einen animalischen Begleiter. Anders als der Löwe in Sibylle Lewitscharoffs „Blumenberg“ ist das Flusspferd keine Erscheinung. Es ist einfach vorhanden, ganz ohne Arbeit am Mythos. Das Leben fließt dahin, besser: es dümpelt wie die Brühe im Pool, und ebenso hält es der Protagonist, bei dem die narrative Konvention Ich-Erzählung und die psychische Konvention Ego-Shooting perfekt zusammenkommen. Am Ende ist das Tier im Zoo, die Tochter des Professors geschwängert und der arme Tor so klug als wie zuvor. „Im besten Fall müsste ich meinen Wissenstand über mein Leben in einer Woche spektakulär verbessern“, weiß der Held im Abstand einer Dekade. Der Rahmen des Buches und die Einsicht in den Abschied vom Jugendbonus verhindern, dass es dazu kommt. Wieder hat sich Arno Geiger in einem Generationssprung versucht. Anders als bei seinen seltsamen Expeditionen in den Sex im Alter bei „Alles über Sally“, hat man jetzt den Eindruck, da wisse einer, wovon er spricht. Womöglich hat er es selbst erlebt. Der Anteil an Autobiografik mag auch erklären, warum sich Geiger, da die Leserschaft der Coming-of-Age-Geschichten, wie sie Wolfgang Herrndorf oder John Green millionenfach erreichen, eher aus pubertierenden Mädchen besteht, einen doch ziemlich sperrigen Gerade-Twen konstruiert hat. Unsereiner jedenfalls findet sich mitgemeint. Ein schönes Buch. Arno Geiger, Selbsporträt mit Flusspferd, München: Hanser 2015
Mehr Texte von Rainer Metzger

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