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Traumgesicht

Gerade leben wir in vehementen Tagen. Die Ukraine-Krise hält die Welt in Aufruhr, und man wird Augenzeuge diverser Befindlichkeiten. Hollande will außenpolitisch retten, was er innenpolitisch längst hergegeben hat. Merkel will beweisen, dass in ihr die deutsche Sozialdemokratie zur Vollendung kommt. Lawrow hält in München eine Rede, die nicht un-, sondern meta-diplomatisch ist. Und in den USA ist schon Wahlkampf. Die Ängste blühen. 50 Prozent der Deutschen, weiß die Bildzeitung, befürchten, als hätten sie alle es schon mitgemacht, einen Krieg gegen Russland. Die Süddeutsche titelt „Als hätte der Kalte Krieg nur Pause gemacht“. Die F.A.Z. wirft sich zu einem apokalyptischen „Der Tag, an dem die Welt zerfiel“ auf. Und bei derstandard.at posten sich noch mehr Wirrköpfe als sonst ihre Pathologien von der Seele. Es gibt eine Art kollektive Sorge. In den Achtzigern, als Nena 99 Luftballons beschwor, die 99 Jahre Krieg vom Zaun brachen, und Minimal-Veteran Robert Morris auf monströsen Tafelbildern Leichenberge verteilte, hatte ich im Traum immer wieder das Bild einer sich am Horizont hochtürmenden Explosion. Es muss eine Art Atompilz gewesen sein, und wie sich in vielerlei beängstigten Gesprächen ergab, war es nicht nur mir so ergangen. Beruhigender Weise verschwand die Vision, als auch die reale Gefahr eines nuklearen Konflikts wenn nicht überwunden so jedenfalls von anderen, handfesteren, alltäglicheren politischen Problemen überdeckt wurde. Jetzt kehrt die Angst vor dem Overkill zurück. Einer, der sich mit Apokalpysen auskennt, denn eben die Illustrationen zum letzten Buch der Bibel standen am Anfang seiner Karriere, ist Albrecht Dürer. Er ist einer der bedeutendsten Künstler überhaupt, man kann sagen, mit ihm beginnt, was einen Künstler ausmacht: ein ausgeprägtes Ego nämlich, das sich in Auto-Porträts in Christus-Form und frühestem Selbstakt zeigt, in Geldgier und ewigem Gejammere, in großer Meisterschaft und kleinlichem „Gekläubel“ (das Wort hat er in die deutsche Sprache eingeführt), in Reiselust und Funktionärsgehabe und insgesamt in einer bildnerischen und literarischen Hinterlassenschaft, die es ermöglicht, sein Leben ziemlich genau zu rekonstruieren. Bestandteil der Selbstauslotung ist eine frühe Form von Psychologie. Und so ist eines der erstaunlichsten, für uns Heutige nichts anderes als modern anmutenden Blätter entstanden, ein Stück Innenschau, in dem einer aus seinem Herzen keine Mördergrube macht. Das „Traumgesicht“, wie Dürer es nennt, erinnert ganz einschlägig, geradezu modellhaft, an eine bestimmte Vision. So sieht Dürers Aquarell samt Beschriftung aus: „Im 1525 Jahr nach dem Pfingsttag zwischen dem Mittwoch und Pfintztag in der Nacht im Schlaf hab ich dies Gesicht gesehen, wie viel großer Wassern vom Himmel fielen,“ heißt es im Text; es ist Wasser, nicht Feuer, das hereinbricht: „Aber do das erst Wasser, das das Erdreich traf, schier herbeikam, do fiel es mit einer solchen Geschwindigkeit, Wind und Brausen, daß ich also erschrak, do ich erwacht, daß mir all mein Leichnam zittret und lang nit recht zu mir selbs kam. Aber do ich am Morgen aufstund, molet ich hier oben, wie ichs gesehen hätt. Gott wende all Ding zum besten.“ Die Instanz, die Dürer anruft, um den Schrecken zu bannen, ist uns abhanden gekommen. Vielleicht hilft uns dafür die Erkenntnis, dass Russland und die EU im Grunde das Gleiche wollen: Verhindern, dass die Ukraine in den Verfügungs-, Verantwortungs- und vor allem Versorgungsbereich des Westens gerät.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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