Rainer Metzger,
9. November
Freunde von uns schieben an diesem Tag eine DVD ein. Da sie der jüdischen Tradition verpflichtet sind, müssten sie eigentlich an einer Gedenkveranstaltung zum beschönigend „Kristallnacht“ genannten 9. November 1938 teilnehmen. Die Mischung aus Depression und Zukunftsgewissheit, die hier gepflegt wird, scheint ihnen aus nachvollziehbareren Gründen allzu verordnet. Also schauen sie einen Film, den besten, den es gibt, um Adolf Hitler das Anrecht auf Geschichtsmächtigkeit abzustreiten: Ernst Lubitschs „Sein oder Nichtsein“, noch mitten im Geschehen hergestellt und in allen Belangen, speziell auch in jenem der Lächerlichmachung, historisch richtig. Man kann den 9. November nicht besser begehen als mit diesem Klassiker.
Ich selbst bin beim 9. November in England und im Jahr 1966. Damals traf, anlässlich ihrer Ausstellung in der Londoner Indica-Galerie, Yoko Ono zum ersten Mal auf John Lennon. Ian MacDonald, der großartige Kompilator des Beatles-Songbooks, hat, was in Folge geschah, folgendermaßen verarbeitet - in einer Bemerkung zu „The Ballad of John and Yoko“: „Da sie ihm intellektuell überlegen war, war der Einluß von ihr auf ihn stärker; und da er ihr künstlerisch überlegen war, strömten diese Einflüsse durch seine Musik direkt in die Öffentlichkeit. Folglich wurden ihre Aktivitäten, da sie nicht darauf achteten, naiv, und ihre Geste mit den heruntergelassenen Hosen auf dem Cover von Two Virgins zeigt, wie infantil intelligente Menschen sich geben können, wenn sie vorgeben etwas zu glauben, was sie in Wahrheit nicht nachvollziehen können“. Barry Miles allerdings, zusammen mit John Dunbar damals der Galerist von Indica, glaubt sich entgegen der offiziellen Verlautbarung zu erinnern, dass der schicksalhafte Tag bereits der 8. November war.
Plattencover Two Virgins, Yoko Ono, John Lennon
Ich habe kein Glück mit meinem persönlichen 9. November. Dass er das notorische Datum der Deutschen schlechthin ist: Was soll ich sagen? Jener Tag vor einem Vierteljahrhundert, der jetzt im Mittelpunkt allen memorialen Bemühens steht, ging an mir spurlos vorüber. Mein Kalender für das Jahr 1989 berücksichtigt an diesem Tag das gleiche wie jener von König Ludwig XVI., der für den 14. Juli 1789, an dem bekanntlich für Frankreich durchaus Entscheidendes passierte, folgenden Eintrag parat hat: „Rien“. Am Tag vorher war Galerieneröffnung in München, eine Woche später fuhr ich auf die Art Cologne. Dazwischen: Nichts.
In der Gemengelage aus Zufall und Geschichtslogik, die den 9. November so bedeutend macht, steht übrigens Friedrich Schiller ganz oben. Der erblickte am 10. November 1759 das Licht der Welt, und die Deutschen haben es sich irgendwann im 19. Jahrhundert angedeihen lassen, am Vorabend auf den Geburtstag ihres Großdichters anzustoßen. Schnell wurde daraus ein chauvinistisches Geschwurbel. Kein Wunder bei diesem Patron. Ich bin Goetheaner, ich finde Schiller unerträglich.
Alle Menschen werden Brüder. Auf so einen Satz kann nur einer kommen, der keinen Bruder hat. Schiller hatte fünf Schwestern. Etwas Bemerkenswerteres fällt mir zum 9. November der Deutschen nicht ein.
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