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Marlene Dumas

Seit der Zeit um 1800, und nichts anderes ist die Moderne, geht man davon aus, dass der Mensch aus Oberfläche besteht. Und seither versucht man, dessen stählernes Gehäuse zu knacken. Das Vehikel des Vordringens hinter die äußere Schale ist notgedrungen der empirische Apparat, und je nachdem, ob man Auge, Ohr oder Hand anlegt, kommt man zu jeweils anderen Ergebnissen. Konzentriert man sich darauf, was man hört, so arbeitet man psychologisch. Hat man es bevorzugt mit dem Anfassen, so verfährt man phänomenologisch. Legt man es auf die optischen Daten an, so geriert man sich physiognomisierend. Letzteres wäre die Domäne der Bilder. Es wäre die Domäne des Realismus. Mit seinem Überhang des Dargestellten vor dem Darstellenden und der Information vor der Mitteilung ist Realismus von vornherein realitätsnah, und er bringt dadurch ein Moment des Fremden ins Spiel, dass er sich auf eine Art und Weise mit Wirklichkeit ins Benehmen setzt, die über Ähnlichkeit funktioniert. Realistische Bilder sind niemals allein autonom. Sie kümmern sich um das Andere, der Kunst nicht freiweg Einverleibbare. Dieses Andere ist der Mensch. Marlene Dumas ist eine der herausragenden Gestalten eines in diesem Sinn verstandenen Realismus. In ihren Malereien ruft sie zum Defilee der Körper, die sich hundertfach, tausendfach aufreihen zur Sichtung menschlicher Gegebenheiten. Marlene Dumas malt Babies und Greise, Models und Bekannte, Prominente und Dutzendtypen. An diesem Wochenende hat im Amsterdamer Stedelijk Museum eine große Retrospektive von ihr eröffnet, eine Hommage an die Lokalmatadorin, mit fast 200 Arbeiten aus allen Facetten ihres Schaffens opulent wie noch nie. Marlene Dumas, The Kiss, 2003, Öl auf Leinwand, 40 x 50 cm, Privatsammlung London, Foto: Peter Cox In Marlene Dumas’ Galerie dessen, was es alles gibt, herrscht zunächst das pure Konstatieren vor, die Einvernahme des schlichtweg vor Augen Stehenden, das Einsammeln der visuellen Daten, die Inventur des Gegebenen. Meist nimmt sie sich Fotos vor und rangiert nun mit Aquarellfarben, Tusche und Pastellkreide die Züge. Solche Charakterisierungen verdanken sich selten einer Psychologie, wie auch, die Konterfeis sind meist nur aus der Ferne vertraut. Was in diese Porträts schlechterdings einfließt, ist ein buchstäbliches Vor-Urteil, eine distanziert getroffene Einschätzung ohne die Notwendigkeit, diese Kenntnis zu verifizieren. Es ist der Kern des Prinzips Physiognomie: der Kurzschluss dessen, was man zu sehen meint, mit dem, was man als Vorwissen parat hat. Bei Marlene Dumas entsteht es im Tunnelblick auf Gefährdung, Versehrtheit und Leiden. Bei aller Intaktheit der Körper macht sich ein Eindruck von Deformation geltend, unterschwellig und sehr suggestiv. In der Gegenwart hat die Vorliebe, in Mitleidenschaft gezogen zu sein, notorische Konjunktur. Sich als Opfer zu fühlen ist attraktiv wie nicht mehr seit den Märtyrerkulten der Spätantike, und man macht diesen Viktimismus damit plausibel, dass man in und vor der Gesellschaft erzogen, zugerichtet, uniformiert, gezüchtigt worden ist. Wie triftig auch immer eine solche Haltung, die von der aktuellen Theorie eines Michel Foucault oder Giorgio Agamben genährt wird, erscheinen mag, Marlene Dumas’ Bilder geben ihr ein bevorzugtes Forum. Mithilfe der Physiognomie: Sich als Opfer darzustellen in einer Zeit, die pazifiziert ist wie keine in der Geschichte, ist Sache einer Prädisposition. Bekanntlich sieht man nur, was man weiß. Die Oberfläche der Körper, wie Marlene Dumas sie festhält, ist der Spiegel dieses Wissens. -- Stedelijk Museum Marlene Dumas – The Image as Burden 6. September 2014 – 4. Jänner 2015 www.stedelijk.nl
Mehr Texte von Rainer Metzger

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