Rainer Metzger,
Uniform
Noch immer funktioniert das Beweisstück, wie es in einer Vitrine des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien zu sehen ist. Die Blutflecken, die sich über die gesamte Brustpartie hin erstrecken, sind nach wie vor deutlich zu sehen, und auch der Stoff hat das Jahrhundert, das sich am Samstag vollendet hat, so gut überdauert, dass der ominöse Riss offen zutage tritt. Augenscheinlich hat damals jemand versucht, die Uniformjacke schnell und ungestüm zu öffnen und die Wunde zu versorgen. Der Revolverschuss aber war höchst gezielt. Zehn Minuten später war der Getroffene tot, seine Gemahlin, auf die ebenfalls nur einmal angesetzt worden war, starb sogar auf der Stelle. Dass man noch versucht hatte, erste Hilfe zu leisten, gehört zum Ablauf solcher Ereignisse. Wahrscheinlich kamen durch die Notmaßnahmen erst diese Spuren auf dem Kleidungsstück zustande, die bis heute ihre Eindrücklichkeit bewahrt haben. Spuren sind Hinterlassenschaften auf der Oberfläche. Ein Schuss mitten ins Herz dringt gleich in die Tiefe.
Uniform Franz Ferdinands im Heeresgeschichtlichen Museum Wien, Foto: Sandstein
Anders als bei der Ermordung seiner Tante, der Kaiserin Elisabeth, gut fünfzehn Jahre vorher fiel Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 keinem Anarchisten zum Opfer. Die Propaganda der Tat ließ sich um so deutlicher vernehmen. Franz Ferdinand war ein erklärter Feind der südosteuropäischen Unbotmäßigkeiten, speziell der serbischen Staatlichkeit, der sich der Attentäter zugehörig fühlte. Der Thronfolger suchte einen Ausgleich mit den Tschechen und hatte damit das Augenmerk der k.u.k.-Monarchie exakt in die Gegenrichtung gelenkt. Der Anschlag rückte den Fokus dorthin, wo die Balkanproblematik ihn haben wollte. Die ganze Welt blickte plötzlich auf das gebirgige Territorium und seine ungelösten Fragen. Mit der Kampagne von Sarajevo begann eine Tragödie europäischen Ausmasses.
Gavrilo Princip, der Mörder, zeigte jedenfalls das Prinzip: Ein plötzlicher Schlag vermag es, eine Militärmaschinerie ins Wanken, wenn nicht zu Fall zu bringen, und er richtet sich stets auf höchst einschlägige Ziele, auf Orte oder Personen, die diese Maschinerie symbolisch besetzen. Für diejenigen, die sie nicht am eigenen Leib erleben, wird Gewalt gemeinhin durch die Bilder präsent. Im Prinzip Attentat sucht sich die Gewalt selbst Objekte, die als Bilder taugen. Die vereinzelte Zerstörung eines Gebäudes oder die konkrete Vernichtung eines Menschen dienen gleichsam als Vorgeschmack auf das Kommende, gerieren sich als kurze Einblicke in eine Absicht aufs Ganze. Das Totalitäre kennt nur eines: Alles.
Die Uniform ist ein perfektes Corpus Delicti, denn an ihrer Textur sind die Ereignisse haften geblieben. Man kann das, was seinerzeit geschehen ist, je nachdem als Verbrechen oder Befreiungsschlag sehen. In erster Linie aber kann man es sehen, kann man es wahrnehmen, denn es ist visuell vorhanden als Spur, Markierung, Abdruck, als Zeugnis jener körperlichen, physikalischen Vorhandenheit, die sich stets mit Gewalt verbindet. So ist die Jacke Zeugnis. Man muss nichts in sie hineininterpretieren wie oftmals bei Exponaten aus der Geschichte, man muss keine Rekonstruktionen von historischen Zuständen anstellen, die man sodann, per Zirkelschluss, durch das Objekt beglaubigt sieht, um der Bedeutung dieses Ausstattungsstückes gewahr zu werden. Die Uniformjacke ist ein Dokument ersten Ranges. Und wie so oft in der Geschichte arbeitet die Dokumentation mit dem einfachsten Mittel: mit Blut.
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