Werbung
,

Provinzialismus

Vorige Woche war Boris Becker zu Gast im Aktuellen Sportstudio. Er sah nicht sehr gut aus, wirkte aufgedunsen und vorzeitig gealtert, und man meinte an seiner Physiognomie zu erkennen, was der Boulevard und anschließende Gefilde von ihm so sprießen lassen. Was Becker indes sagte, hatte Hand und Fuß, er war hellwach und versuchte auf durchaus charmante Weise, nicht allzu deutlich aber mit unverkennbarer Überzeugung, zum Ausdruck zu bringen, was Deutschland an ihm habe: nämlich schlicht einen Weltstar. Davon hat das Land mit seinen mehr als 80 Millionen Einwohnern grotesk wenige, und wenn schon einer existiert, dann kann der was erleben. Die weit offenen Augen sind eines von Beckers Markenzeichen, sie verleihen ihm einen steten Ausdruck des sich Wunderns, und das war es, was Becker artikulierte, als er erzählte, wie die Deutschen an ihm nichts als seine privaten Problemchen in den Himmel heben, so als müßten sie sich rächen, dass derlei Hochjauchzendheiten einst seinen Erfolgen galten. ZDF Das aktuelle Sportstudio. 01.02.2014 (Link zur ZDF TVmediathek) Nun ist Kleingeisterei kein deutsches Privileg. Gemeckert wird überall, und es gehört zur Psychohygiene jedes Zukurzgekommenen, Menschen, die sich den Status der Prominenz erarbeitet haben, auf die eigene Augenhöhe knapp oberhalb der Grasnarbe zu befördern. Mit der Beobachtung, dass Kleingeisterei auch die deutsche Perspektive in ihrem Bann hält, hat Becker aber schon Recht. Gerade hat man es, im Vorfeld der Olympischen Winterspiele in Sotchi, wieder vorgeführt bekommen. Missstände allenthalben sind dingfest gemacht worden: Die Homosexuellen in Russland, die Arbeiter auf der Baustelle, der Machthaber im Kreml, das IOC in seiner Verblendung und was nicht alles hat man zum Anlass der obligatorischen Empörung genommen. Man selbst hat an Olympia bestenfalls dahingehend mitgearbeitet, dass die Möglichkeit, es im eigenen Lande besser zu machen, verhindert wurde. Verhindert von den Betroffenen, denjenigen aus der allernächsten Umgebung, die buchstäblich pro domo abgestimmt haben: aus ihrer Betroffenheit heraus. „Provinzialismus“ war ein Text überschrieben, den Karl Heinz Bohrer vor einem knappen Vierteljahrhundert im damals von ihm herausgegebenen „Merkur“ veröffentlichte. Es war eine Bestandsaufnahme jener alten Bundesrepublik, die sich nach der Wiedervereinigung, wie erwartet werden konnte, gründlich wandeln würde. Bohrers Invektiven waren so durchschlagend, dass eine Kampagne daraus wurde und eine Art Kolumne Bohrers zu diesem, scheinbar ubiquitären, Thema. Ich zitiere aus diesemText: „Diese Provinzialität aufgeräumter, blitzblanker Innenstädte und lukullisch-appetitlicher Angebote, denen jeder Anflug von Geschichtlichkeit ausgetrieben wurde, enthält ein besonderes, manchmal hysterisch wirkendes Gefahrenverbot: Alles soll gesund, übersichtlich, geregelt sein, buchstäblich die staatlich verordnete Idylle jenseits der großen Politik.“ Das ist im Dezember 1990 publiziert. Mit der Berliner Republik würde es sich, das war für Bohrer unausweichlich, ändern. Es hat sich nicht geändert.
Mehr Texte von Rainer Metzger

Werbung
Werbung
Werbung

Gratis aber wertvoll!
Ihnen ist eine unabhängige, engagierte Kunstkritik etwas wert? Dann unterstützen Sie das artmagazine mit einem Betrag Ihrer Wahl. Egal ob einmalig oder regelmäßig, Ihren Beitrag verwenden wir zum Ausbau der Redaktion, um noch umfangreicher über Ausstellungen und die Kunstszene zu berichten.
Kunst braucht Kritik!
Ja ich will

Werbung
Werbung
Werbung
Werbung

Ihre Meinung

Noch kein Posting in diesem Forum

Das artmagazine bietet allen LeserInnen die Möglichkeit, ihre Meinung zu Artikeln, Ausstellungen und Themen abzugeben. Das artmagazine übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt der abgegebenen Meinungen, behält sich aber vor, Beiträge die gegen geltendes Recht verstoßen oder grob unsachlich oder moralisch bedenklich sind, nach eigenem Ermessen zu löschen.

© 2000 - 2024 artmagazine Kunst-Informationsgesellschaft m.b.H.

Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Gefördert durch: