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To have Access

Die Dokumentarfilme im Rahmen der Viennale 2013 Es mag banal klingen, aber das Essentielle einer Dokumentation sei „to have access“. Alan Berliner, der Regisseur von First Cousin Once Removed, brachte es anlässlich der Diskussionsrunde zu Beginn der diesjährigen Viennale auf diesen Punkt, nämlich als Dokumentarfilmer einen sehr persönlichen, eventuell intimen, jedenfalls speziellen Zugang bzw. Einblick in eine Lebensgeschichte, einen Ort, eine gesellschaftliche Gruppe, ein historisches Ereignis, ein spezifisches Interessensgebiet usw. zu haben – und natürlich intensives Interesse, möchte man hinzufügen. Das diesjährige Viennale-Programm weist 57 Titel als Dokumentarfilme aus (ein respektabler Anteil zu vergleichsweise 85 Spielfilmen) und in den anderen Sparten (Kurzfilme, Specials) verstecken sich noch weitere. Die vielfältigen Formen des Genres stehen aktuell zur Diskussion. Die filmische, stilistische Umsetzung reicht von so reduzierten Montagen wie bei James Benning’s Stemple Pass mit seinen halbstündigen Einstellungen pro Jahreszeit auf die nachgebaute Waldhütte Ted Kaczynski’s, des als Unabomber bekannt gewordenen Mathematikers, wobei dessen eigenwillige Gedanken – gelesen von Benning – dieses landschaftliche Stillleben konterkarieren oder verstärken. … reicht bis zum Bilder- und Szenenreichtum in Bambi von Sébastian Lifshitz. Die weibliche Präsenz und Ausstrahlung von Marie-Pierre Pruvot, deren aufregendste, glamouröseste Zeit Ende der 1950er Jahre als 18jähriger Nachtclubstar „Bambi“ begann, wurde sogar schon mit Marilyn Monroe verglichen. Weit über Siebzigjährig lässt Pruvot ihre – schier unglaubliche, insgeheim pionierhaft-faszinierende – Lebens-, Leidens- und Liebesgeschichte, die als Jean-Pierre in einem algerischen Ort begonnen hat, für die Kamera noch einmal Revue passieren – in klaren, nachdenklichen wie erheiternden Erzählungen, an diversen Schauplätzen, anhand von Fotos, Archivaufnahmen ihrer Auftritte, privaten Super-8-Szenen. Das brachte den Teddy Award als bester Dokumentarfilm (Berlinale 2013) … und bis zu The Great Flood von Bill Morrison, der sich auf die extravagante Montage von Found Footage spezialisierte, in diesem Fall historisches Material über die verheerende Mississippi-Überflutung im Jahr 1927. Die tonlosen Wasser- und Menschenströme werden „begleitet“ vom meisterlichen Jazz-Blues-Sound Bill Frisells. To have Access. Welche Themen, welche Bilder interessieren FilmemacherInnen 2013? Zu welchen Geschichten hatten sie, bekamen sie, verschafften sie sich Zugang? Festivaldirektor Hans Hurch konstatiert, dass sich noch selten – auf das Gesamtprogramm bezogen - so große Gegensätze aufgetan haben zwischen Ernsthaftem und Komischem, Dunklem und Hellem, Abgründigem und Schwebendem… – eigentlich kein Wunder in einer Zeit, wo alles zu Extremen auseinander zu driften scheint. Im Mittelpunkt steht der Mensch, einzelne Persönlichkeiten. Weltklasse-Pianistin Martha Argerich in Bloody Daughter und Regisseur Samuel Fuller (A Fuller Life) – beide von ihren Töchtern filmisch beleuchtet. Mara Mattuschka, die von Regisseurin Elisabeth Maria Klocker als „Antidiva“ entlarvt wird. Very important-Formel I-Star Jackie Stewart, nunmehr Sir Jackie Stewart, von Freund Roman Polanski an vier Tagen 1971 beim Grand Prix von Monte Carlo begleitet und gefilmt von Frank Simon, ergibt: Weekend of a Champion, klugerweise ergänzt um eine aktuelle Sequenz, in der Stewart und Polanski über diese Zeiten, aber auch die Fortschritte in den Sicherheitsmaßnahmen resumieren (die u.a. auf Stewarts Engagement zurückzuführen sind). Nicht zuletzt wird Boris Karloff’s (Stichwort: Frankenstein) atemberaubende Verwandlungskunst von Norbert Pfaffenbichler in kurzen Schnitten kompiliert und komprimiert. – Und da sind die anderen, denen nachgegangen wird, mitgegangen, eingedrungen in ihre Welt (access!): Sickfuckpeople (russische Selbst- und Fremdzuschreibung drogensüchtiger Straßenkinder in Odessa), deren karge und genau genommen hoffnungslose Lebenswelt Regisseur Juri Rechinsky drei Jahre lang teilte und einzelne Episoden daraus extrahierte. Den (tristen) Alltag im Milieu der Arbeiterklasse in den Weiten des nördlichen Michigan holt Nick Bentgen in Northern Light auf die Leinwand. In Le Cousin Jules, einem raren Stück Film aus 1973, warf Dominique Benicheti einen langen, ruhigen Blick auf ein altes Ehepaar mit ihren täglichen handwerklich-ländlichen Verrichtungen, wie ein kleines Lehrstück über die vorindustrielle Zeit, und natürlich zum Sterben verurteilt. - Themen, die wir auch aus den Medien kennen, AIDS, Alzheimer, Migration und der (rasante) Wandel von Städten und Landschaften – auch hier hat die Viennale 2013 aktuelle Exempel. Und ja, es müssen noch immer Kriege „aufgearbeitet“ werden, neu und wohl nie genug hinterfragt, beleuchtet, sogar noch einmal nachgestellt werden. Raffiniert und kühn ermutigten die Regisseure von The Act of Killing Joshua Oppenheimer, Christine Cynn und Anonym indonesische Paramilitärs der 1960er Jahre, ihre damaligen Greueltaten für Filmaufnahmen noch einmal vorzuführen, was diese mit großem Genuss und anhaltender Genugtuung in aufwendigen Inszenierungen auch tun. Zu einem anderen Mittel muss Rithy Panh greifen, der die Schrecken der Rothen Khmer Kambodschas nicht nur aus historischen Filmmaterial, sondern auch durch bemalte Tonfiguren marionettenhaft nachstellt und spannungsvolle Momente schafft in L’Image Manquante. – Und es gibt die privaten Abgründe, die Menschen zu Mördern machen – und die nun selbst den Tod durch Menschen erwarten. Ihnen schenkt erneut Werner Herzog Aufmerksamkeit in Death Row II. Das Dokumentarische im Film geht aber verstärkt auch neue Wege und auch diesem Umstand zollt die Viennale die entsprechende Aufmerksamkeit. Die Hälfte der „Propositions“, die nach Meinung der Festivalleitung einen „eigenständigen, inhaltlich und ästhetisch unverwechselbaren Beitrag zum State of Production markieren“, zielt auf Dokumentarfilme, etwa The Great Flood (s.o.), Three Landscapes (Peter Hutton) oder Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe (Philipp Hartmann). Darüber hinaus fokussiert das Spezialprogramm Wilde Ethnografie auf Produktionen aus dem Sensory Ethnography Lab (SEL), das seit 2006 an der Harvard University neue filmische Praktiken fördert. Wissenschaftlich-dokumentarische und künstlerische Aspekte sollen neu verschmolzen werden. In erster Linie sollen vermeintliche Objektivitäten (statische Einstellungen) und doktrinäre filmische Mittel (Voice over) überwunden werden. Etwa durch die Neuinterpretation von Kamerapositionierung erregte bereits im Vorjahr Leviathan von Institutsgründer Castaing-Taylor großes Aufsehen. Es handelt sich durchaus um Mikro-Studien von Personengruppen oder temporären Situationen, zu denen man sich erst „access“ erwerben muss. Generell stößt das Genre aber auch bisweilen an seine Grenzen und es ist von Fall zu Fall sehr unterschiedlich, ob durch extravagante (experimentelle, künstlerische) Mittel die Objektivität bzw. die Aussagekraft gesteigert und die Rezeption ein tatsächlicher Gewinn ist. – Diese Fragen stellen sich ganz anders, wendet man sich einem anderen Doku-Special zu, dem frühen österreichischen Dokumentarfilm, beginnend 1903 mit Der Besuch Kaiser Franz Josefs in Braunau am Inn, die Sonnenfinsternis am 8. April 1921 beleuchtend oder moderne Technologien vorführend, etwa in Die Ozeanflieger Chamberlin und Levine in Wien. Unter diesem Gesichtpunkt entpuppt sich das Dokumentarische als das Urformat des Kinos – und es hat noch lange nicht ausgedient, obwohl oder gerade weil es sich immer wieder neu befragt. www.viennale.at
Mehr Texte von Aurelia Jurtschitsch

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