Rainer Metzger,
Lucian Freud
„Ich nehme keine professionellen Modelle“, gab der Meister 2002 zu Protokoll, „sie sind zu oft angestarrt worden, und so ist ihnen eine zweite Haut gewachsen. Wenn sie ihre Kleider ablegen, sind sie nicht nackt; ihre Haut ist ihnen eine zweite Kleidung geworden... Ich male die Menschen nicht aufgrund einer Ähnlichkeit und auch nicht trotz einer Ähnlichkeit, sondern wie sie gerade sind.“
Dieses „wie sie gerade sind“, im Original „how they happen to be“, scheint das Betriebsgeheimnis des britischen Porträtisten Lucian Freud gewesen zu sein. Wien macht sich gerade auf, diese Betriebsamkeit zu erkunden: Das Kunsthistorische Museum, jetzt auch der - erweiterten - Gegenwart verpflichtet, stellt den Maler aus, das Museum in der Berggasse, das seinem Großvater verpflichtet ist, zeigt fotografische Dokumente von Lucian Freuds Assistenten David Dawson.
Für mich ist Lucian Freud eines der Paradebeispiele eines überschätzten Künstlers. Freud ist 1922 in Berlin zur Welt gekommen, und man mag seine Malerei in jene Tradition stellen, wie sie damals Kunstgeschichte der Welt schrieb. Im Oktober 1924 war in Moskau eine „Deutsche Kunstausstellung“ eröffnet worden, mit Dix, Grosz, Hausmann, und der sowjetische Kommissar für die Künste Anatoli Lunatscharski ließ es sich nicht nehmen, die Schau zu rezensieren. Dabei wurde der Begriff „Verismus“ geprägt: „Die äußeren Wirklichkeitsformen verrücken im Spiegel dieser Künstler ihre Umrisse, verwandeln sich so, dass der eigentliche Sinn, der wirkliche Inhalt der Lebenserscheinungen, die unser Verstand erkannt oder unsere Einfühlungsgabe erraten hat, als ihr Äußeres hervortreten, dass sie ersichtlich werden. Das verleiht eine enorme agitatorische Wucht.“ Diesen Sätzen gemäß ist Freud Verist, Lunatscharskis „der eigentliche Sinn, der wirkliche Inhalt“ entspricht dem „how they happen to be“.
Lucian Freud, Painter Working, Reflection, 1993, Öl auf Leinwand, 101,6 x 81,7 cm, Privatsammlung, © The Lucian Freud Archive / The Bridgeman Art Library
Doch auf dem Weg zu Eigentlichkeit und Wirklichkeit des Inhalts spreizen sich immer schon die malerischen Mittel. Und anders als sein zeitweiliger bester Freund und lebenslanger künstlerischer Widersacher Francis Bacon macht Freud seine Mittel nicht zum Thema. Dass Realismus ein Projekt darstellt und jedes Phänomen in der langwierigen Übertragung von der Drei- in die Zweidimensionalität und von der Evidenz in die Stellvertreterschaft durch das Bild unablässig dementiert wird, ein Mechanismus, der die Malerei spätestens seit Courbet in Bann hält, lässt Freud kalt. Er verbeisst sich ins Motiv; dass in der Moderne dazu eine Methode gehört und nicht nur eine Technik, deckt er zu mit Unermüdlichkeit.
Freud, der Verist. Und wogegen sollte er, in Lunatscharskis Worten, seine enorme agitatorische Wucht lenken? Ganz einfach: Gegen das Motiv. Deswegen macht Freud aus Menschen Freaks. Monstrositäten bevölkern seine Leinwände, sie kommen zur Kenntlichkeit bei der bizarren Eighties-Ikone Leigh Bowery und dessen nicht minder überbordender Lebens-Frau Sue Tilley. Doch sie breiten sich auch aus, wenn es um eine, optisch betrachtet, unscheinbare Person wie die Queen geht. Freuds Verstricktheit in die Epidermis wird physiognomisch und macht aus dem Schrundigen, Klaffenden, Teigigen des Inkarnats einen Charakterzug. Freuds Bilder denunzieren. Denunziation wiederum hat dem Publikum immer schon gefallen.
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