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Marcel Reich-Ranicki 1920 – 2013

1962, im Schlüsseljahr der Kulturgeschichte, veröffentlicht Martin Walser einen Artikel, der sich als „Brief an einen jungen Autor“ darstellt. Walser schildert darin ein Treffen von Literaten und Kritikern und hält einige Situationen parat, auf die sich der Newcomer einstellen soll. So beschreibt er die mutmaßlichen Reaktionen einiger der Kritiker, und es sind die einschlägigen: „Dein Vorgelesenes landet, mit Höllerers Fähnchen gespickt, von Jens groß etikettiert und gewogen, von Kaiser ein- und ausgeatmet und intim entlarvt, bei Reich-Ranicki, der sofort aufsteht, wenn er sich mit Dir abzugeben beginnt. Weil er schneller sprechen kann als seine Vorredner, kann er, bei nur geringer Überschreitung der erträglichen Rede-Dauer, alle Verfahren seiner Vorgänger exekutieren und noch einiges dazu...Schon der bloße Gedanke, daß ohne sein Da- und Dabeisein dieser weiß Gott nebensächliche Aspekt ganz unerwähnt geblieben wäre, versetzt Reich-Ranicki in große Eile.“ Zweifellos beschreibt Martin Walser eines der Treffen der Gruppe 47, jenem „Zentralcafé einer Literatur ohne Hauptstadt“, wie Hans Magnus Enzensberger es wiederum nannte. 1958, noch als Gast aus Polen, war Marcel Reich-Ranicki zum ersten Mal dabei, und er wird das Zentralgestirn der Veranstaltung werden, gerade als sie längst untergegangen war. Aus der Gruppe 47 bezog Reich-Ranicki sein überbordendes Selbstvertrauen, und so ist es ganz natürlich, dass seine zum Bestseller gewordene Autobiografie „Mein Leben“ mit einer dort empfangenen Anekdote beginnt. „Was sind Sie denn nun eigentlich“, habe Günter Grass ihn in Großholzleute, wo die 1958er Tagung stattfand, gefragt, „ein Pole, ein Deutscher, oder wie?“ Die Antwort: „Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher, und ein ganzer Jude.“ Grass sei „beinahe entzückt“ gewesen, berichtet Reich-Ranicki, der seine Replik ganz hübsch fand, aber auch „so effektvoll wie unaufrichtig“. All das, was seine Antwort bereitgehalten habe, sei er nie gewesen. Sein Partiotismus nämlich, und das ist einer seiner schönsten Begriffe, galt allein dem „portativen Vaterland“, das man in Gestalt der deutschen Literatur bei sich tragen konnte. Diese Heimat wiederum hat er bis in die letzten Winkel ausgelotet. Mit Grass und Walser hat er sich bevorzugt herumgeschlagen. 1977 schrieb er die Rezension zu Walsers „Jenseits der Liebe“, der Totalverriss in der FAZ begann mit der unsterblichen Klimax „ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman“ und der nicht minder wunderbaren Fortsetzung „es lohnt sich nicht, auch nur eine einzige Seite zu lesen“. Die Atmosphäre blieb vergiftet, auch wenn die Besprechung des folgenden Buches von Walser, „Ein fliehendes Pferd“, geradezu süßliche Töne spuckte. Walser schlug zurück mit gelinden Antisemitismen, doch das war Reich-Ranicki auf weitaus heftigere Weise gewohnt. Zusammen mit seiner Frau Teofila, genannt Tosia, überlebte er das Warschauer Ghetto und dessen Zerschlagung, er entging dem Abtransport nach Treblinka im Hinterhaus von Bolek und Genia, dem polnischen Ehepaar mit der perfekten Maxime: „Adolf Hitler, Europas mächtigster Mann, hat beschlossen: Diese beiden Menschen hier sollen sterben. Und ich, ein kleiner Setzer aus Warschau, habe beschlossen, sie sollen leben. Nun wollen wir mal sehen, wer siegen wird.“ Das Effektvolle, das er sich selbst zuschreibt, hat Reich-Ranicki sein Leben lang beibehalten, und es hat ihm eine Präsenz beschert, die sein Metier meilenweit überstieg. Fußball-Fans von Schalke haben ihn einst gestellt, eine Kamera war dabei, und unverzüglich begann das Skandieren: „Reich-Ranicki“ rhythmisch betont, mit Geklatsche jeweils nach der Anrufung des Namens. Helmut Böttiger, der der Gruppe 47 eine wunderbare Historie geschrieben hat, bringt Reich-Ranickis Betriebstemperatur auf das folgende Fazit: „Er war von Anfang an ein Fernsehkritiker, obwohl das Fernsehen noch gar nicht dabei war. Bei den Tagungen der Gruppe 47 fielen seine Diskussionsbeiträge vor allem durch den Willen zur Pointe, zum eindeutigen Effekt auf“. Der Klagenfurter Bachmann-Preis war ihm auf den Leib geschneidert, das „Literarische Quartett“ ebenso. Für ihn allein war die Kulturschiene im Fernsehen gelegt worden. Hochbetagt ist Marcel Reich-Ranicki am Mittwoch in Frankfurt verstorben. Alles, was Kritik betreibt, muss sich nun wieder selber um Öffentlichkeit bemühen.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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