Rainer Metzger,
Zettel und Wirtschaft
Es muss mehr als zwanzig Jahre her sein, da fuhr ich im Zug von München nach Paris, und mit mir fuhr Niklas Luhmann. Was heißt mit mir, er saß im gleichen Abteil und war unermüdlich beschäftigt zu lesen und viel mehr noch, Zettel zu füllen. Dazu schrieb er auf einen, wir mir schien, stinknormalen Schreibblock und riss nacheinander die Papiere ab, wenn er ein Wort, einen Satz oder auch einen veritablen Horror Vacui darauf hinterlassen hatte. In meiner Erinnerung habe ich das Gefühl, dass er die Schriftstücke einfach in die Seitentaschen seines, sagen wir, nicht gerade auf der Höhe des Fashionablen befindlichen Jacketts steckte.
Das mit dem In-die-Tasche-Stecken ist wohl falsch, doch entspricht es zugleich dem Bild, das man sich von Luhmann machte. Er, der Verfechter einer kontingenten, allein vom menschlichen Wahn nach Konstruktion in der Fasson gehaltenen Welt, war der Zettelwirtschafter schlechthin. Wenn er schon nach dem strammen Vorbild Hegels alles, was nur zu räsonnieren war, übers Knie seiner Methode und damit Rekorde in Publikationsfülle brach, dann musste auch das mit der Systematik stimmen. Garant dafür war ein Archiv, das scheinbar spielend von der Oberbekleidung ins Universale ausgriff. „Ich denke ja nicht alles allein“, gab der Meisterdenker zu Protokoll, „sondern das geschieht weitgehend im Zettelkasten... Meine Produktivität ist im wesentlichen aus dem Zettelkasten-System zu erklären... Der Zettelkasten kostet mich mehr Zeit als das Bücherschreiben.“
Wenn ich hier einen unstatthaften Vergleich anstellen darf: Bei mir ist es genauso (eine zweite Instanz für Mühe und Aufwand wäre noch der erste Satz, für den ich normalerweise so lang brauche wie für den ganzen Text – aber das wäre ein eigenes Thema). Geht man nach Marbach am Neckar, wo Schiller geboren wurde und deswegen ein Nationalmuseum dort steht, wo es das deutsche Literaturarchiv gibt und in einem Bau von David Chipperfield, der von außen ein wenig den weiland Ehrentempeln am Münchner Königsplatz ähnelt, einen wunderbar genutzten Präsentationsort für alles, was mit Schreiben zu tun hat, dann merkt man, dass es noch vielen so geht wie Luhmann (und mir). Bis 15. September sind unter dem Motto „Maschinen der Phantasie“ eben Zettel meistens mit und manchmal ohne Kasten zu sehen, Zettel von Leuten, die für derlei Ansammlungen einschlägig sind wie Aby Warburg oder Walter Benjamin, die berühmt dafür sind wie Walter Kempowski oder Hans Blumenberg, oder bei denen man etwas anderes vermutet hätte wie Kurt Pinthus, dem Emphatiker des Expressionismus, oder Friedrich Kittler, dem Hagiographen des Computers.
Die bildende Kunst hat sich seit den Sechzigern, man denke nur an den exuberanten „Index“ von Art & Language, seinerseits am Ein,- Um- und Verzetteln abgearbeitet. Auch hier hat, wie Rosalind Kraus über Sol LeWitt schrieb, der Wahn Methode. Archiv jedenfalls braucht Erschließung. Und mit jeder Erstellung einer Logik fängt auch eine Pathologik an. Meine Zettel enthalten übrigens nur Verweise auf Stellen in Büchern. Ich muss also immer meine Bibliothek um mich haben. Es gibt brauchbarere Verfahren.
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