Werbung
,

Gillian Wearing: Schmerzhafte Rollenspiele

"Als er starb, war ich glücklich", sagt die Frau mit der grotesken Maske. Solche Sätze sind schrecklich. Noch schlimmer ist die Geschichte. Der Großvater hatte sie jahrelang missbraucht. "Aber selbst, als meine Mama es wusste, hörte es nicht auf", denn es hieß, die Kinder gingen mit Opa hoch zum Spielen. Das ist einer der Fälle, die Gillian Wearing in ihrer Arbeit "Trauma" aus dem Jahr 2000 ausbreitet. Zu sehen ist sie bis 7. Juli im Münchner Museum Brandhorst zusammen mit knapp 30 weiteren, gelegentlich mehrteiligen Video- und Fotoarbeiten der britischen Trägerin des renommierten Turner Preises von 1997. Wer sich die Arbeiten der 1963 in Birmingham geborenen Künstlerin anschaut, sollte starke Nerven mitbringen. Hier schlägt dem Betrachter in einer Wucht und Überdosis ein Alltag entgegen, der von Alkoholismus, Brutalität, unerfüllten Sehnsüchten, emotionalen Hinterhalten und Ausweglosigkeiten zeugt – zumeist aus der Sicht der Opfer. Hinter all diesen Fallstudien wird offenbar, dass dies nicht Gott gegebene Zustände sind, sondern verhandel- und tauschbare Rollen. Etwa in "Bully" aus 2010. In einer kargen Halle wird ein junger Mann dazu ermuntert, eine Personenanordnung, sein persönliches "Historienbild", nachzustellen. Der Erwachsene bringt die Mitspieler in eine Situation, in der er sich als Kind befand. Da ist eine Gruppe, die ihn tyrannisiert. Er solle verschwinden, wird gehänselt und bis aufs Blut gepeinigt und in die Ecke gedrängt. Höchste Not. Dann holt er die anderen herbei. Sie aber bleiben schaulustige Gaffer. Dann stoppt er das Bild. Der "Regisseur" sagt dem jungen Mann, er solle seine Gefühle reflektieren. Der bricht in Tränen aus, beschimpft seine Mitspieler, Stellvertreter der unheiligen Geister aus seiner Vergangenheit. Trost bieten diese Werke nicht. Rollen, Individualität, Verwandtschaftsverhältnisse: Eine Mutter schwankt von Sekunde zu Sekunde von Liebkosungen zu Gewalt. "Sacha and Mum" (1996) treibt die oft vertrackten Verhältnisse in Familien auf die Spitze. Gegen diese Vorschlaghämmer wirken auch die eher konventionellen Identitätsspiele, in denen die Künstlerin sich mit perfekter Maske in sich selbst mit 17 Jahren, ihren Vater, die Schwester, Mutter oder Bruder verwandelt, nicht unbedingt als therapeutische Mittel.
Mehr Texte von Matthias Kampmann

Werbung
Werbung
Werbung

Gratis aber wertvoll!
Ihnen ist eine unabhängige, engagierte Kunstkritik etwas wert? Dann unterstützen Sie das artmagazine mit einem Betrag Ihrer Wahl. Egal ob einmalig oder regelmäßig, Ihren Beitrag verwenden wir zum Ausbau der Redaktion, um noch umfangreicher über Ausstellungen und die Kunstszene zu berichten.
Kunst braucht Kritik!
Ja ich will

Werbung
Werbung
Werbung
Werbung

Gillian Wearing
21.03 - 07.07.2013

Museum Brandhorst
80333 München, Theresienstraße 35a
Tel: +49 89 238 052 286
http://www.museum-brandhorst.de
Öffnungszeiten: Di. bis So. von 10 bis 18 Uhr, Do. bis 20 Uhr


Ihre Meinung

Noch kein Posting in diesem Forum

Das artmagazine bietet allen LeserInnen die Möglichkeit, ihre Meinung zu Artikeln, Ausstellungen und Themen abzugeben. Das artmagazine übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt der abgegebenen Meinungen, behält sich aber vor, Beiträge die gegen geltendes Recht verstoßen oder grob unsachlich oder moralisch bedenklich sind, nach eigenem Ermessen zu löschen.

© 2000 - 2024 artmagazine Kunst-Informationsgesellschaft m.b.H.

Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Gefördert durch: