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Empörung

„Indignez-vous“ war das Pamphlet im französischen Original überschrieben, das Weltkarriere gemacht hat. Stéphane Hessel veröffentlichte es im Oktober 2010, auf Deutsch ist es als „Empört Euch“ in die Gemüter eingegangen. Gerade ist Hessel 95jährig verstorben, sein Text hält die Erinnerung wach an die Résistance der 40er, der er sich zeit seines Lebens verbunden fühlte. Hessel hat nicht „révolter“ benutzt, um sein Anliegen auf den Punkt zu bringen, sondern das neutralere, beobachtendere, Engagement in Reflexion ummünzende „indigner“, das im Deutschen zumindest im Adjektiv „indigniert“ vorkommt. Dass die Übersetzung ins Rechtsrheinische mit dem Empörungsbegriff arbeitet, passt dann perfekt ins Bild. Empörung ist der Schlüsselbegriff für die Aktivitäten, die der sich für staatstragend haltende deutsche Bürger momentan an den Tag legt. Paradebeispiel dabei natürlich Stuttgart 21. In aller Selbst-Ermächtigung und Selbst-Verständlichkeit tritt hier eine Generation auf den Plan, die für persönliches Verdienst hält, was ihr die Jahrzehnte in den Schoß gelegt haben. Aufgewachsen nach dem Krieg, ins Wirtschaftswunder hinein, in den 60ern mit Emanzipationsbewegungen vertraut geworden, die aus den USA kamen, studiert ohne Beschränkung, beschäftigt mit der Vollbeschäftigung, hantiert man mit der Selbstevidenz der Pfründe. Es ist die Klientel, die, wie die Süddeutsche Zeitung es auf den Punkt brachte, mit dem Porsche Cayenne zum Bioladen fährt. In diese Logik gehört der Protest gegen die Bahn und ihre einst doch sehr vermittelbaren Bestrebungen, den Kollektivverkehr zu stärken. Diese Logik ist entsprechend keine Öko-Logik. Man ist ja auch gegen das Pumpspeicherwerk im Schwarzwald, denn nichts verschandelt krasser den Blick vom und aufs Wochenendhäuschen. Empörung, dieser seltsam amoralisch gewordene Begriff, deckt in diesen Bestrebungen seine Kehrseite auf: die Heuchelei. Karl-Markus Gauß hat den schönen Gedanken geprägt, der Ekel wäre „im Körperlichen, was die Empörung im Moralischen ist“ (in: Zu früh, zu spät, Wien 2007). Gerade der Ekel, hat Gauß festgestellt, werde den Leuten momentan ausgetrieben, durch die diversen Dschungelshows etwa, deren Konjunkturen für sich sprechen. Womöglich sind die Leute, und auch hier sprechen gewisse Konjunkturen für sich, genauso die Empörung losgeworden. Was Empörung ersetzt hat, ist Selbstjubilatorik: Man ist vielleicht nicht einverstanden mit der Welt; um so einverstandener ist man jedenfalls mit sich. So war das mit der Moral nicht gemeint.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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