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Rekonstruktionen

So viel Vergangenheit war schon lange nicht: In der Musik gibt es die so genannte „historische Aufführungspraxis“, die bildende Kunst beschäftigt sich mit der „Moderne als unserer Antike“, und in den Städten baut man immer öfters so genannte „identitätsstiftende Erinnerungsinseln“. Bei der ersten Praxis handelt es sich um die Rekonstruktion eines Klangs, bei der zweiten um die Annährung an einen verloren gegangenen Optimismus, bei der dritten Rekonstruktion in der Regel um den „gewachsenen Zustand“ vor der Moderne. In einem gewissen Sinne hängen alle drei Arten der Rekonstruktion zusammen: Man glaubt offensichtlich nicht mehr an die Moderne als ein zeitloses Projekt. Historizität ist wieder denkbar geworden. Selbst Historismus! Besonders für die Denkmalpflege ist das eine spannende Entwicklung. Ihr Ahnherr, der Kunsthistoriker Georg Dehio – nach ihm sind bis heute die Handbücher der Kunstdenkmäler benannt –, wird wahrscheinlich schon im Grabe rotieren. Die "Masken und Gespenster", vor denen er vor über hundert Jahren gewarnt und die er gegeißelt hatte, sind wiedererstanden. Und sie sind so populär wie nie. In immer mehr Städten verlangen die Bürger (meist gegen die Verwaltung und Architekten) die Wiedererrichtung untergegangener Gebäude, ganzer Straßenzüge und Plätze: die Frauenkirche in Dresden, die Schlösser in Berlin, Braunschweig und Potsdam, ein Rathaus in Wesel, ein Zunfthaus in Hildesheim, usw. Aber wo soll das alles hinführen? Haben Sie sich schon mal überlegt, warum auf dem Forum Romanum so viele Ruinen rumstehen? Antwort: Weil so schwer zu entscheiden ist, welche der vielen übereinanderliegenden Schichten man konkret rekonstruieren soll. Da haben es die Bürgerschaften in deutschen Städten einfacher: Sie fordern schlicht den Zustand vor den Verheerungen des 2. Weltkriegs zurück. Doch ist das moralisch überhaupt vertretbar? Mit moralischen Maßstäbe operierte bereits Georg Dehio, der einst gegen den purifizierenden Weiterbau alter Baudenkmäler (etwa der gotischen Dome) wetterte. Die Anhänger des architektonischen Historismus attackierte er als „Lügner“ und „Fälscher“. Auf dieser Spur sind ihm Denkmalpfleger, Architekten und Planer bis heute gefolgt. Sie haben seine Argumente sogar noch zugespitzt. Ein Wiederaufbau von Gebäuden in alter Form sei ein "Verbrechen". Den Frankfurtern, die bereits ab 1947 Goethes Geburtshaus wiedererrichteten, wurde einst sogar unterstellt, damit das Naziunrecht ungeschehen machen zu wollen. Heute scheinen solche Fronten nicht mehr zu existieren: Direkt neben der Frankfurter Kunsthalle Schirn klafft derzeit ein gewaltiges Loch. Auf der Fläche von circa drei Fußballfeldern werden dort gerade die Fundamente gelegt für eine Rekonstruktion von „Alt-Frankfurt“. Wo bis vor kurzem noch ein gewaltiger Waschbetonbau der Verwaltung aus den 1970er Jahren stand, sollen sich in einigen Jahren wieder jene historische Gassen und Fachwerkhäuser erheben, die einst den Krönungsweg zwischen Dom und Römer säumten. Ein ganzes mittelalterliches Stadtviertel wird hier rekonstruiert. In nächster Nähe zu den unzähligen Wolkenkratzern der Banken! Da passt es gut, dass im Frankfurter Liebighaus und im Städel für dieses Frühjahr zwei große Ausstellungen über die Themen Klassik und Klassizismus angekündigt sind. War doch der Klassizismus hierzulande die erste Epoche einer architektonischen Rekonstruktion, die sich als wahrhafte Modernisierung verstand. Denn wie sagte schon Jacques de Goff: "Modernität kann im Gewande der Vergangenheit hervortreten. Das ist eigentümlich für alle Renaissancen."
Mehr Texte von Vitus Weh

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Ihre Meinung

2 Postings in diesem Forum
Realitätsfern
bitteichweisswas | 29.01.2013 01:37 | antworten
für jmd., der aus einem Land kommt, dessen Städte nicht "ausgebombt" wurden, ist es ein Leichtes zu behaupten, "man müsse gefälligst den status quo anerkennen". Als einer, der immer wieder in deutschen Städten zu Gast ist, verstehe ich sehr wohl den Wunsch der Bevölkerung nach einer partiellen Rekonstruktion des Ante-WK II-Stand: zu unhübsch u. uninspirierend sind die schnell hochgezogenen 50er- u. 60er Jahre Strassenzüge. Und: Keine Angst, die Patina kommt ganz bestimmt !!!
Auch wenn es problematisch
artlis | 30.01.2013 01:41 | antworten
sein sollte, zerstörte historische Gebäude wieder "originalgetreu" aufzubauen, sollte es einem zu denken geben, dass die Bevölkerung solche Wünsche hat. Wäre die Architektur der Nachkriegszeit wirklich qualitätvoll gewesen und hätte sie eine schöne Patina ansetzen können, würden solche Forderungen wohl nicht gestellt. Aber es ging nur darum, möglichst schnell Wohnraum zu schaffen. Sehen Sie sich Bilder von Städten wie Dresden, Köln oder Frankfurt vor dem Krieg an und Sie werden sehen, um wie viel hässlicher diese heute sind. In einer Stadt wie Wien, die voll ist von Kulissen der Monarchie, kann man den Verlust an Bausubstanz und Identität, den die deutschen Städte erlitten haben, vermutlich nicht so recht nachvollziehen.

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