Aurelia Jurtschitsch,
V’12 Dokumentarfilme – It’s a strange, strange world we live in
Die über 60 Dokumentarfilme der heurigen Jubiläums-Viennale loten Filmisches und Vorfilmisches in extremen Dimensionen aus: Ein Shot von 78 Minuten (Cohn, Sniadecki: Renmin Gongyuan) oder 60 Shots von exakt 60 Sekunden (Benning: One Way Boogie Woogie) oder ein Shot = ein Kader, also das standardisierte Vierundzwanzigstel einer Sekunde (Kudlácek: Fragments of Kubelka) oder die Titel gebenden 5 Broken Cameras (Burnat, Davidi). - 957 Jahre Gefängnisstrafe für 17 Morde (Thompson: Jeff), Einblicke in das Leben von 1400 Evakuierter von Fukushima, die das Los der 100.000 Nuklearflüchtlinge repräsentieren (Atsushi: Nyukuria Neisyon/Nuclear Nation), die 13-jährige (!) Nadya am Beginn ihrer Vielleicht-Karriere (Sabin, Redmon: Girl Model), 500 Stunden äußerste Konzentration und Exponiertheit als Kunstprojekt (Akers: Marina Abramovic: The Artist is Present).
Welche Themen also griffen die FilmemacherInnen auf bzw. wurden 2011/12 präsentiert – und worauf fokussierte Festivaldirektor Hans Hurch? Trotz offizieller Feierstimmung zieht sich durch das Programm etwas Beklemmendes, Betrübliches angesichts der Befindlichkeiten des Mensch-Seins im 21. Jahrhundert oder der menschlichen Vergehen bis Vergänglichkeiten, auch wenn sie in den Filmen bereits aufgearbeitet, untersucht, geklärt werden - jedenfalls wird nicht (mehr) verdrängt oder weggeschaut. Vielmehr wird die Kamera draufgehalten auf alte und neue Kriegsschauplätze etwa in Israel/Palästina, Afghanistan, Algerien (Ounouri: Fidai). Es geht um die Aufdeckung von (Massen-)Mördern, Verbrechen, um die inneren Abgründe von Todeskandidaten (Herzog: Into the Abyss, Death Row) und um falsche Verurteilungen (Burns / Burns / McMahon: The Central Park Five). Wortlose Bilder liefern einen Abgesang ländlicher Lebensformen, die über Generationen stabil waren, egal ob in Spanien oder in Japan (Cachafeiro: Arraianos; Gonzalez-Rubio: Inori), erzählen vom Alt-Sein, Älter-Werden und vom Sterben (Dwoskin: Age is; Naomi: Chiri) – und ebenso „wortlos“ blicken Tiere in die Kamera, trippeln vor Zäunen hin und her, schlagen mit den Hufen gegen die Boxenwände... (Coté: Bestiaire).
Doch es gibt auch Aufbruchstimmung. Yeah! Lebendigkeit, Erneuerung, Lösungsmöglichkeiten: Leichtigkeit des Seins auf Skateboards (Mims, Tippet: Only the Young), keine Behinderung des Lernens und Zusammenlebens durch Behinderung (Wenders: Berg Fidel – Eine Schule für alle). Die Energie einer sprühenden Kulturrevolution im Brasilien der 1960er Jahre im Film durch phantastisch montiertes Archivmaterial aufleben lassen, das gelang Marcelo Machando mit Tropicàlia. Sich neu erfinden in einer weiblichen Identität – und dann in Szene gesetzt von Antony Hegarty, diesen Durchbruch dokumentiert Charles Atlas in Turning. Ich möchte auch Patwardhans Film Jai Bhim Comrade zu diesen positiv stimmenden Arbeiten zählen. Obwohl zu Beginn des 3-Stunden-Epos die schier hoffnungslos-triste Situation der Zugehörigen der „unberührbaren“ Kaste, der Dalits, vor Augen geführt wird, gefolgt von Aufständen, Rückschlägen, neuerlichen Vorstößen und Durchbrüchen, ist der gesellschaftliche Bewusstwerdungsprozess nicht aufzuhalten. - Definitiv Thumbs-Up für vier Musikerinnen, die ihren Weg passioniert gehen, dokumentiert von Mirjam Unger in Oh yeah, she performs! Eines unter mehreren KünstlerInnen-Portraits dieser Viennale und eine der österreichischen Produktionen.
Wie eingangs schon angedeutet, wird es immer augenfälliger, allgemein sinnesfällig, dass beim Dokumentarfilm immer öfter die ganze Bandbreite an ästhetisierenden, verdichtenden, formalisierenden, experimentellen Elementen einsetzt – und hybridisiert wird. Sehr elaboriert und bildgewaltig, mehr nächtliches Puzzle als Narration, sticht hier Leviathan von Castaing-Taylor / Paravel hervor.
www.viennale.at
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