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Die Rückkehr von Kabinett und Kiosk

Das Bemerkenswerte an der documenta 13 sind nicht die medialen Blendgranaten, die im Vorfeld für die Presse gezündet wurden (z.B. „Wahlrecht für Erdbeeren“), sondern einige ausstellungstechnische Details und wiederentdeckte Formate. Da ist einerseits das Museum Fridericianum: Welche lange Geschichte diesem Bau innewohnt, hatte ich in meiner letzten Causerie bereits angesprochen. Vor Ort in Kassel war ich aber doch erstaunt, wie großflächig leer die Erdgeschosshallen für die Luftzug-Installation von Ryan Gander gelassen wurden. Sie erinnerten dadurch stark an ihre einstige Ruinenzeit / den legendären Zustand bei der documenta 1, 1955. Erstaunlich fand ich auch, dass die einstige Gebäude-Widmung (Museum = Bibliothek) nicht nur in dem Publikationsprojekt 100 Notizen – 100 Gedanken aufgegriffen war, sondern darüber hinaus in zahlreichen künstlerischen Beiträgen der Ausstellung. Besonders die Beiträge von Michael Rakowitz (eine Steinbibliothek in einem bewusst schwer auffindbaren Raum), Kader Attila (ein schauriges Regaldepot über das Thema Narben- und Reparatur-Ästhetik), Mark Dion (Fassung und Fortsetzung der berühmten Schildbach-Xylothek) und Mariam Ghani (eine Zweikanal-Videoinstallation über die beiden Gebäude Museum Fridericianum in Kassel/ Darulaman-Palast in Kabul) führten tief in diese Materie ein. Wie weit den KünstlerInnen hier von der Kuratorin ein dezidiertes Bildprogramm vorgegeben war, wäre interessant zu erfahren. Einstmals war die Aufgabenteilung in Bildprogramm (Auftraggeber) und Ausführung (Künstler) ja durchaus üblich, aber das liegt Jahrhunderte zurück! Das Resultat der Kasseler Wiederbelebung ist in seiner inhaltlichen Dichte jedenfalls überzeugend. Ebenso eine Wiederbelebung ist das Raumformat des so genannte „Gehirns“ („Brain“) im Fridericianum: In der zentralen Rotunde, also an jenem legendären Ort, an dem einst Joseph Beuys seine Honigpumpe am Arbeitsplatz installiert hatte und wo auf der d12 Paul Klees großartiges Bild Angelus Novus einsam präsentiert wurde, hat die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev eine Menge an kleinteiligen Kunst-Dingen zusammengetragen und hinter einer Glaswand dicht zu einem begehbaren Kabinett zusammengefügt. Für die Kuratorin sind hier „die zahlreichen Stränge der dOCUMENTA (13) ... auf ungesicherte Weise miteinander verknüpft“. Was sie da allerdings alles versammelt hat und wie das in ihren Augen genau zusammenhängt, ist für den einzelnen Brain-Besucher gar nicht so wichtig. Wichtig im Sinne der Selbstermächtigung des Rezipienten ist vor allem, dass da überhaupt jemand offensiv darlegt, nicht entlang von Begriffen, sondern entlang von Dingen und Bildern zu denken. Und in diesem Kabinett, quasi der modernen Fassung eines Renaissance-Studioli, lässt sich tatsächlich gut begreifen, wie sich persönlich aufgeladene Objekte zu einem Kosmos der Beziehungen und Bedeutungen entwickeln können. Möglicherweise legt die Kabinett-Präsentation eine gewisse Distanz zur logozentrierten Philosophie und auch zur kanonisch-linearen Kunstgeschichte nahe, doch sie ist keine Abkehr vom Denken als solchem. Es würdigt lediglich die Art zu Denken, um die es in Ausstellungen und Sammlungen ohnehin immer geht. Wenn es in Ausstellungen tatsächlich nur um die Übersetzung in Wörter und kunstgeschichtliche Abfolgen ginge, wäre ein Buch das bessere Medium. Aber eine Ausstellung ist vor allem eine Konstellation von Dingen im Raum. Und da entzünden sich die Imagination und das Denken gar nicht so selten gerade an den unbedachten Zwischenräumen, an zufälligen Nachbarschaften und den daraus resultierenden Analogien. Wie entscheidend bei dieser documenta allerdings auch die bedachten Zwischenräume sind, wird besonders in der Karlsaue deutlich. Diesmal stehen dort keine großen Ausstellungszelte oder –hallen wie bei früheren Ausgaben, sondern es wurden über dreißig kleinere Pavillons über den ganzen Park verteilt. Das besondere daran: In jedem dieser individuell geformten Pavillons ist jeweils nur eine künstlerische Installation zu besichtigen. Es gibt im Park zwar auch Installationen direkt im Außenraum, aber solche klassische „Kunst im öffentlichen Raum“ ist eindeutig in der Minderheit. Der Parcours durch den Park ist damit vor allem ein Spaziergang von Klause zu Klause, oder um dem islamischen Kulturraum, der diese Art der Parkgebäude erfunden hat, die Ehre zu geben: von Kiosk zu Kiosk. Als wohltuend – neben der Qualität der gezeigten Installationen z.B. von Lori Waxman, Omer Fast oder Pedro Reyes – empfand ich vor allem den großen Abstand zwischen den einzelnen Kiosken. Er erst gab den nötigen Platz, um dem gerade Gesehene noch jeweils etwas nachzuspüren, gab Platz für Bewegung und Gespräche, und gab Zeit, um sich auf die Begegnung mit dem nächsten künstlerischen Kosmos einzustimmen. Das üppige Grün und Gezwitscher des Parks war hierfür das perfekte Nullmedium. Geht man nach solch einem inspirierenden Spaziergang in ein herkömmliches, mit einer Sammlung vollgestopftes Museum (z.B. in Kassel die Neue Galerie) erleidet man regelrecht einen Schock: „Die Gelassenheit und die Heftigkeit der Bewegungen, das Getändel, das Gelächel, die Verkrampfungen, gewagteste Gleichgewichtsakte setzen in meinem Gemüte ein unerträgliches Mosaik von Eindrücken zusammen. Ich stehe inmitten eines Aufruhrs eingefrorener Kreaturen, deren jede einzelne – ohne dass es ihr gewährt würde – nach dem Nichtvorhandensein aller anderen schreit.“ (aus: Paul Valéry, Das Problem der Museen, 1923)
Mehr Texte von Vitus Weh

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