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„Die documenta ist ein Geisteszustand.“

Der von Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev definierte Anspruch ist hoch. Er bezieht sich nicht nur auf den Schauplatz, die zu erfahrende Kunst und die teilnehmenden KünstlerInnen, sondern wird vor allem an die BesucherInnen gestellt. Denn dieser Geisteszustand verlangt in seiner bewusst unüberschaubaren Komplexität eine Anstrengung in jeder Hinsicht. Und Christov-Bakargiev zitiert Adorno: „Das Gewordensein von Kunst verweist ihren Begriff auf das, was sie nicht enthält. Die Spannung zwischen dem, wovon Kunst getrieben ward, zu ihrer Vergangenheit umschreibt die sogenannten ästhetischen Konstitutionsfragen.“ Die Präsentationen sind radikal, präzise gesetzt, schnörkellos und ohne Umschweife. Der akzentuierte Stil Christov-Bakargievs ist konsequent und permanent, stets durchdacht, vielschichtig, hintergründig und anregend und daher auch anstrengend. Ein gründlicher Ehrgeiz, keine auch nur irgendwie relevante Problematik auszulassen, hat die Schau bis ins Detail mit Vieldeutigkeit penetriert. Die allerorts transportierte Kritik richtet sich Disziplinen übergreifend sowohl gegen globale Verhältnisse wie individuelle, sie reicht vom politischen, ökologischen, psychologischen, geisteswissenschaftlichen bis zu utopischem Gedankengut. Sie geht über die Grenzen hinaus und strapaziert bei aufmerksamer Betrachtung. Christov-Bakargievs documenta gleicht einer intellektuellen Performance, transgressiv in jeder Hinsicht: Die einzelnen Positionen sind Fakten, die als Faktoren agieren um diesen Geisteszustand aktiv zu konstituieren, in welchem sich Menschen, Dinghaftes und imaginative Räume in einem verdichteten, nicht abgrenzbaren Beziehungsnetz bewegen. Die Definition von Kunst oder Nicht-Kunst ist obsolet. Bedeutend ist der Wirkungskreis der verschiedenen Realitätsstrukturen, die als „Formen der Transition“ zu verstehen sind, „die die traditionellen Subjekt-Objekt-Dichotomien“ aufheben. In der documenta-Halle wird die Konzentration auf Malerei gelegt, auch hier wieder als Medium, das im stetig sich wandelnden Kontext differente Aspekte offen legt. Eine beachtliche Reihe an Vitrinen durchzieht das gesamte Gebäude wie ein roter Faden. Darin sind frühe Arbeiten (1945 – 60) auf Papier von Gustav Metzger ausgestellt, der bislang vorwiegend aufgrund seiner später entwickelten autodestruktiven Kunst Aufmerksamkeit erregt hat. Die markanten, von starkem Kolorismus geprägten Zeichnungen sind in unrestauriertem Zustand, mit Knicken und Falten in den Schaukästen abgelegt und nur durch das jeweilige Abdecken der darüber liegenden Decken einsehbar – um eine konservatorische Notwendigkeit kann es sich nicht handeln, vielmehr um eine verborgene Präsenz, einem Verweis auf Authentizität, Geschichte und dem Umgang damit? Ähnliches in Bezug auf unsere Wahrnehmung heute, unsere Kompetenz und Möglichkeiten, die geistige Landschaft um uns in ihrer Komplexität zu erfassen, ließe sich anhand die großformatigen Gemälde von Julie Mehretu reflektieren: Mit technischer Perfektion sind Schichtungen graphischer Zeichnung übereinandergelegt, verschiedene historische, architektonische und geographische Verweise zu einer Gleichzeitigkeit verdichtet, deren Diffusität dem betrachtenden Auge auch aus der Nähe keinen Halt bietet. Yan Lei zeigt in einem ironischen Anspielen auf die Begierde nach Aktualität und Erlebnisdrang die Rolle der Erinnerung auf. Seine 360 Gemälde mit erkennbaren Referenzen an allgemein bekannte Bildquellen sind in einem Raum dicht an dicht gehängt bzw. verstaut. Im Laufe der documenta werden sie nach und nach in einer nahe gelegenen Autofabrik monochrom übermalt und wieder an ihren Platz in der documenta-Halle verbracht. Während die schnarrenden, monoton betenden Automotoren von Thomas Bayrle einen hörbar humoristischen Aspekt in die Ernsthaftigkeit der vorgetragenen Thematik einbringen, skizzieren MOON Kyungwon & JEON Joonho mit ihrem Film „El fin del mundo“ und zugehöriger Installation eine beängstigende postapokalyptische Vision. Der dargebotene Verlust von Kommunikationsfähigkeit und menschlicher Identität wird in symbolischer Metaphorik mit der Frage nach einer möglichen Funktion von Kunst und Ästhetik verzahnt. Die bedrückende Melancholie findet mit der Dramatik von Nalini Malanis multimedialen Installation „In Search of Vanished Blood“ eine Steigerungsform der immersiven Erfahrung und psychischen Erregung. In einer Kombination aus auf die Wände projizierten Videos und den Schatten von rotierenden bemalten transparenten Zylindern entwickelt sie aus der Problematik um feministische Emanzipation, religiöse und gesellschaftliche Unterdrückung ein provokantes Potential, das sie als narrativen Diskurs in zeitgenössische Zusammenhänge führt. Verschiedenartigste literarische und musikalische Bezugnahmen und archetypische Motivik sind in immer neuen Begegnungen und Bedeutungen miteinander verwoben. Das individuelle Schicksal impliziert ein kollektives. Malanis Video/Schattenspiel stellt einen virtuosen Schlussakkord in der documenta-Halle dar. Aus dem Komplex dOCUMENTA (13) ist die Präsentation in der Halle nicht herauszulösen. Das Zentrum bildet sicher das Fridericianum, in dessen Rotunde Carolyn Christov-Bakargiev das von ihr so genannte „brain“ ausstellt. Von diesem ausgehend eröffnet sich der energetische, mit Bedeutungen aufgeladene Raum in Diversitäten der Perspektiven; als unerschöpfliche spannungsreiche Fundgrube - für den, der die Herausforderung annimmt, um sich in den differenziertesten Intensitäten zu verlieren und in bei maßlosen querverbindenden Reflexionen zu finden. -- dOCUMENTA (13) 9/6 - 16/9 2012 http://d13.documenta.de
Mehr Texte von Margareta Sandhofer

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