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Marcel Duchamp in München 1912: Auf der Treppe

Wenn man selbst in München aus dem Zug steigt, dann krähen kein Hahn und selten noch eine Henne danach. Wenn sich aber einer wie Marcel Duchamp einmal in der bayerischen Landeshauptstadt verlustiert hat, dann wird ihm immerhin jetzt ein großer Bahnhof bereitet; und die „geringfügige“ Zeitverzögerung von genau 100 Jahren liegt wohl in der bajuwarischen Lebensart und ihrer gemütlich verschleppenden „mia san mia“-Souveränität begründet. Im Fokus auf dem knapp dreimonatigen Aufenthalt des Künstlers an der Isar zeigt man im Kunstbau der Städtischen Galerie im Lenbachhaus erstmals die zwei dort entstandenen Gemälde, flankiert von hinweisreichen Skizzen und dem immer wieder faszinierenden Miniaturmuseum seiner „Schachtel-im-Koffer“, und komplettiert Duchamps Übergang vom Maler zum verschwiegenen Denker und Schachspieler in Arbeiten, die kurz davor realisiert oder konzeptuell fixiert wurden. Neben diversen, eher glücklos verlaufenen Frauengeschichten geht Duchamps selbstverordnetes Exil auf die brüske Ablehnung von „Akt eine Treppe herabsteigend, Nr. 2“ durch den Pariser Salon des Indépendants und die Hardliner-Kubisten-Clique um Albert Gleizes zurück. Zu sehr schien die zwischenzeitliche Ikone der klassischen Moderne - vorher noch nie in Deutschland zu sehen! - den verkrusteten Grundsätzen der Künstler der Zersplitterung und Zergliederung zu widersprechen. „Ein Akt steigt niemals die Treppe herab, ein Akt liegt…“, so die Begründung der Jury. Was Grund genug war für Duchamp, die Stadt grußlos zu verlassen und sich am 21. Juni 1912 bei seinem Freund, dem Münchner „Kuhmaler“ Max Bergmann, und in der Folge in der Schwabinger Barerstraße 65 einzuquartieren. Allein die Tatsache, dass die „Münchner“ Werke – „Der Übergang von der Jungfrau zur Braut“ und die „Braut“ - erstmals zusammen mit der treppab sich sehnenden Nackten und dem kurz danach in Angriff genommenen „Großen Glas“ (1915 – 1923) in einem Raum zusammengebracht in einen entwicklungsgeschichtlichen Dialog treten können, ist die wahre Sensation der wunderbar konzentrierten Ausstellung. Und die eigentlich logischen stadtgeschichtlichen Einbettungsversuche fallen nicht weiter ins Gewicht. In und zwischen diesen beiden Gemälden vollzieht sich die Loslösung von jeder kubistischen Verpflichtung und den Fesseln und Beschränkungen des Tafelbilds. München, das ist auch der wohlbedachte Abschied von der Malerei in Bild gewordenen Raten. Das gestrenge Schablonisieren des Kubismus sieht sich mehr und mehr in einen locker gefügten, immer aber sexuell-aufgeladenen Zusammenhang gerückt; hülsenartig in- und gegeneinander verschobene Außenansichten weichen der Schaustellung von Schlaufen, Schlingen und Schläuchen, dem poetisch-ungeschönten Eigenleben der Innereien. In München entwickelte Duchamp erste Skizzen für „Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar (Großes Glas)“ - zweifellos eines der meisterhaften Mysterienspiele des 20. Jahrhunderts. Und man sollte die zahllosen interpretativen Deutungsversuche einfach beiseite lassen vor diesem erschreckend gegenwärtigen Sittenbild des mechanisierten Geschlechterkampfs, dieser kryptischen Sinn- und Sexmaschine, Konzept: Meisterwerk. Unschwer auszumachen ist die technoide Weiterentwicklung von Motiven, die in der „Braut“ noch malerisch-konventionell angelegt waren. Dass das „Große Glas“ als zeitferne High Tech-Hinterglasmalerei auch auf der Hochschätzung der ursprünglich volkskünstlerisch verwendeten und im „Blauen Reiter“ für die moderne Kunst erschlossenen Technik basiert, hat sicher mit Einflüssen der Schwabinger Künstlerboheme zu tun. Wie aber entwickelte Duchamp diese Ideen, die ihn sanft aber bestimmt aus dem Abenteuerspielplatz der Malerei heraus in die unabsehbaren Weiten des Konzepts und bereits 1913 zum „Readymade“ führten, einem Kapitel, das wohlweislich geschlossen bleibt? „Mein Aufenthalt in München war der Ort meiner totalen Befreiung“, bekannte der Künstler später: Natürlich las und kommentierte er Kandinskys „Über das Geistige in der Kunst“, er soll regelmäßig die benachbarte Alte Pinakothek aufgesucht und dort Lucas Cranach für sich entdeckt haben: Das mag die Herausbildung seines „historischen Sinns“ und seinen Glauben an die spirituelle Qualität der Kunst aller Epochen erklären helfen; häufige Besuche im Technik-Eldorado des Deutschen Museums und der Bayerischen Gewerbeschau, die beide sein Faible für die anonymisierte Maschinenästhetik von Kunst, Leben und Liebe nachweisen könnten, sind wahrscheinlich, aber nicht belegt. Und so beließ der begabte Selbstinszenierer vieles über seinen Aufenthalt und seine neu gewonnene „Münchner Freiheit“ im Ungewissen. Indes: „München hatte sehr viel Stil in diesen Tagen“, meinte Duchamp vieldeutig, um dann doch noch das Geheimnis um seinen heute nur noch schwer verständlichen Enthusiasmus zu lüften: „Ich sprach nie mit einer Menschenseele, aber ich hatte eine großartige Zeit.“
Mehr Texte von Stephan Maier †

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Marcel Duchamp in München 1912
31.03 - 15.07.2012

Lenbachhaus Kunstbau
80333 München, U-Bahnhof Königsplatz
Tel: +49 89 233 969 33
Email: lenbachhaus@muenchen.de
http://www.lenbachhaus.de
Öffnungszeiten: Di - So 10 - 18 h, Do 10 - 20 h


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