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Anna Jermolaewa - Das vierzigste Jahr: Post-sozialistische Sozialnovelle

Gedämpft optimistisch blicken sie in die Kamera, die sechs KameradInnen auf der Fotografie aus dem Jahr 1986: Damals waren sie, knapp sechszehnjährig, noch Schüler eines Kunstgymnasiums im ehemaligen Leningrad, wurden unter anderem in Porträtmalerei in der Tradition des sozialistischen Realismus unterrichtet. Was aber war in der Zwischenzeit geschehen? Wohin hat es die alten Vertrauten nach dem Ende des russischen Imperiums verschlagen? Und: War die kapitale politische Epochen- mit einer ebenso radikalen persönlichen Zeitenwende verbunden? Eher zufällig gefunden, dient eben diese eine „authentische“ Aufnahme der fünf Jungmädchen und eines mannähnlichen Wesens Anna Jermolaewa als Stichwortgeber für ihre filmisch getragene Installation „Das vierzigste Jahr“. In freier Anlehnung an Ingeborg Bachmanns Meistererzählung „Das dreißigste Jahr“ lässt sie sich am Wendepunkt des Eintritts in das vierte Lebensjahrzehnt vom Leben der Anderen berichten, von ihren Ängsten, Sehnsüchten und Zweifeln, und beschränkt sich dabei in ihrer schonungslosen Existenzüberprüfung auf die Rolle der distanzierten Sozialchronistin. Zwei der ehemaligen Komplizen leben noch in Russland: Während sich Anja M. in ihrer häuslichen Hölle obendrein noch durch das nur bedingt begabte Geigenspiel des Sohnes quälen lässt, ist Anja P. völlig in den rabenschwarzen Abgründen der sogenannten russischen Seele versunken, wie man sie aus schockierenden nächtlichen Sozialreportagen auf RTL oder ATV längst kennen sollte: Stichwort Sex, Suff und Selbstverletzung. Lena B. ist zumindest geschäftlich heimisch geworden und dient betuchten Bräuten aus Boston und Umgebung das Gewand der Hoffnung, opulente Brautkleider mit jeder Menge Tüll und Talmi, an. Nastja A. ist nach Jahren des zügellosen Umherziehens und des Abfischens in den Jagdgründen der russischen Hochfinanz in Hongkong zur Ruhe gekommen: Aus Gründen der erhöhten Erpressbarkeitsstufe des Gatten, naturgemäß eines Oligarchen, ist sie auf einer ereignisfreien Bootsfahrt auf dem ebenso träge sich dahin wälzenden Mekong nur am Rande im Bild zu sehen. Der einzige Frauenversteher in der Runde, Alex K., entzieht sich völlig dem Zugriff des künstlerischen Objektivs: Aus dem fernen Kanada sandte er Porträtstudien der Protagonisten im erlernten Stil, und man kann ihm nach all den Jahren nur eingeschränkt künstlerisches Potential attestieren. Die Künstlerin aber, auf der Aufnahme übrigens die zweite von rechts, hat sich in artverwandter Weise ins Bild setzt: Indirekt und aus Prinzip. Während der jüngsten Demonstrationen in Sankt Petersburg dokumentierte sie die Protestaktionen gegen Manipulation und Korruption im Russland Wladimir Putins: Lösen sich jetzt die einst so wenig realitätsnahen Hoffnungen ein? Tja. So viele Namen, Leben und Entwürfe, die um ein Haar im Mistkübel der Geschichte gelandet wären! In Summe reihen sich die schon arg konstruierten Einzelschicksale zu einem überdeutlich choreografierten Sittenbild der russischen Gesellschaft nach deren eigentlichem Kollaps. Es entfaltet sich ein nur wenig ästhetisch ansprechender Kosmos der typisch russischen Lebens- und Leidensart, wie man ihn sich bilderbuchmäßiger und knietiefer im Klischee verankert nicht hätte ausmalen können. Das kann als politisch überkorrekte, post-sozialistische Sozialnovelle gerade noch so durchgehen. Im Sinne eines post-sozialistischen Realismus? Nach einer verbrieften Glaubwürdigkeit und dem authentischen Charakter der Erzählfiguren ist besser nicht zu fragen. Danach sollte man aber auch nicht den Auftrag und das Anliegen der Kunst an sich bemessen, einer Kunst obendrein, die sich in ihrem ästhetisch nur knapp bemessenen Rahmen am Rande der Unerkennbarkeit bewegt. Und das ist - dank an Deichkind - leider überhaupt nicht geil.
Mehr Texte von Stephan Maier †

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Anna Jermolaewa - Das vierzigste Jahr
09.02 - 15.04.2012

Salzburger Kunstverein
5020 Salzburg, Hellbrunnerstrasse 3
Tel: +43 (0) 662/84 22 94-0, Fax: +43 (0) 662/84 07 62
Email: office@salzburger-kunstverein.at
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Öffnungszeiten: Di-So 12-19h


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