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Raum : Selbst - Berlin-Brünn: Wo meine Füße stehen ist der Mittelpunkt der Welt

Grenzerfahrungen sind allemal spannender als die Routine im Zentrum, so R. J. Schleicher in Bezug auf den Schriftsteller Adam Zielinski. Die Grenzen sind offen, doch was ist dahinter? Die Brünner Straße gehört zu den meist benützten Verbindungen von Wien Richtung Norden, doch bis nach Brünn kommt kaum jemand. Der Verkehr über die mittlerweile ausgebaute Hauptverkehrsader A5 tropft ungehemmt in die tschechische Republik, so wenig ist diese befahren. Staufrei in eine unbekannte Stadt. Ankunft im Zentrum, ein vertrautes Gesicht. Auch in Brünn gibt es eine Ringstraße. Prachtbauten von Förster, Ferstel und Hansen. Architektur steht hier in einem ungewöhnlichen Spannungsverhältnis. Deutsch-österreichischer Historismus trifft auf tschechischen Funktionalismus (z. B. Bohuslav Fuchs, Karel Prager) trifft auf lebendige Architekturszene (Petr Hájek, Pavel Hnilička, DRNH, Skupina, ...). Eine gewisse Zerrissenheit ist spürbar, die EinwohnerInnen veranlasst, über die Identität der Stadt nachzudenken. Ende Mai fanden in Wien die Tschechischen Architekturtage statt, organisiert von den in Wien lebenden tschechischen Architekten Jiří Koten und Karel Hausenblas, während im Juni in Brünn die Veranstaltung "Urbane Interventionen/Über die Architektur des öffentlichen Raums" über die Bühne ging (Městské zásahy Brno 2011). Ideengeber für ein zukünftiges (=mögliches) Stadtbild sind jedermann und jedefrau, KünstlerInnen, ArchitektInnen, StudentInnen, … Den(n) Raum füllt jeder selbst. Wer die Stadt erkunden möchte, dem sei auch die derzeitige Show (noch bis Ende August) im öffentlichen Raum anempfohlen: die Biennale Brno Art Open, mittlerweile zum dritten Mal, kuratiert von Karel Cisar. Ein eigener Stadtplan wurde entworfen, um die einzelnen künstlerischen Installationen aufzufinden, erhältlich in Cafés und Institutionen wie dem Kunsthaus Brünn. Dort, im Dům umění města Brna (Brno Haus der Kunst), ist derzeit die Ausstellung Raum : Selbst in Gange, initiiert von der Kuratorin Friederike Hauffe. 9 KünstlerInnen aus Deutschland und Tschechien greifen Raum. Einige der Arbeiten gehen von ortsspezifischen Situationen aus (Architektur, Geschichte), stellen sie in einen anderen Kontext, beziehen sich dazu. Bewegung spielt eine zentrale Rolle, zwischen den Räumen, Werken, dem betrachtenden Individuum davor bzw. darin. Innenraum ist Außenraum ist Fiktion ist Realität. Wo verläuft die Grenze? Vielleicht ist sie schon verlaufen. Was wissen wir schon. Unser Selbst ist eingerichtet, sucht sich den dafür geeigneten Raum, richtet sich aus. Findet seinen Standpunkt. Die Dramaturgie der Show geht von einer Leere aus (Void), die wir mit Geschichte(n) füllen, eigenen und fremden, es spielt ja immer mehr hinein, als uns bewusst. Die vielleicht erste Arbeit, die einem auffällt, "From – to" von Tomáš Moravec, befindet sich am Aufgang/Abgang zur Ausstellung und widmet sich dem Entstehen, dem, was einer Schau vorausgeht: der Arbeit an sich. Ein bewegter Ball (ein Auge? oder zweidimensional: ein Punkt, eine Linie, ein Fragezeichen?) durchleuchtet/reflektiert die Räume, einmal morgens aufgenommen, einmal abends. So läuft die Zeit filmisch zurück oder man folgt ihr chronologisch, je nachdem, welche Treppe man benützt. Den ersten Raum (wo anfangen und was?, die zwei Fangfragen des Lebens) betritt man quasi als fiktiver Bewohner einer Leerstelle. Was man sieht: Aufnahmen leerer Flächen, jeglicher Individualität beraubt, woran der Blick sich festhalten könnte. Ist man im Stande den Raum in Stand zu setzen? Wie ist er definiert, wodurch begrenzt? Alltagsfläche. Projektionsfläche. Was alles fasst, fasst nichts, wird abstrakt, unbewohnbar. (Fotoarbeiten von Ulrike Ludwig) Daneben ein Zelt der Künstlerin Francis Zeischegg. Es hat die Form/das Futter einer Dachkammer. (Die Höllersche Dachkammer aus der Korrektur von Thomas Bernhard fällt mir ein. Sichten und Ordnen eines Nachlasses, die Dachkammer als Raum gewordener Kopf bzw. umgekehrt als Kopf gewordener Raum). Außenraum oder Innenraum. Nomadisch oder sesshaft? Im 19. Jahrhundert "entsprach" es dem künstlerischen Genie, in einer Dachkammer zu hausen (welch paradoxer Ausdruck), und heute? Wer wir sind. Globetrotter oder Eigenbrötler. Im sogenannten Hauptraum eine Installation von Catrin Otto, Raum greifend. Sprache und Perspektive lösen sich darin auf. Raum ohne Eigenschaften – aber voller Accessoires: Babyschuhe, Rechen, Wäsche, Buchstaben – eine rote Spur im Raum. Wohin sie führt. Wirklichkeit aus gespie(ge)lten Tatsachen. Der Realität widersprechend. Oder auch nicht. Moses Möglichkeiten (so der Titel) sind hier groß und entstehen im Moment der Aus(einander)setzung. Die andere Position im Raum – sie stammt von Pavla Scerankova – bezieht sich auf Dinge aus der Kindheit. Retro als Vergangenheit mit Zukunft. Dinge besitzen ein Eigenleben, zumindest im Märchen. Und in der Kunst? Bettlade, Lampe, Tisch und Glas – ihrer Alltagsfunktion entledigt. Die rote Lampe ist zersprungen, wurde jedoch im Moment ihrer Explosion festgehalten. Die Scherben, auf Teleskopstangen fixiert, lassen sich in die ursprüngliche Form zurückbringen oder ausziehen, wie man will. So wird der eigentlich unsichtbare Moment der Zerstörung gebannt und gleichzeitig als variable Skulptur verfremdet. Jede Stadt hat ihre Unverkennbarkeit. Und wofür steht Brünn? Ihr bedeutendstes Bauwerk, die Villa Tugendhat, entworfen vom deutschen Architekten Mies van der Rohe, gebaut 1929/30, ist Ausgangpunkt der Arbeit von Daniela Ehemann. Ein idealer Bau in vollkommener Übereinstimmung von Form und Inhalt. Zeitlos oder bereits überholt? Die Zeit jedenfalls hat ihre Spuren hinterlassen. Ehemann hat die Villa als Modell nachgebaut, zertrümmert und als überdimensionales Modell der Zerstörung im Raum montiert. Ein statisches Ideal in dynamischer Auflösung, fast schwebend. Das cleane und bedeutungsträchtige Ideal eines Modells – doch die Realität hat ihren eigenen Schriftzug. Ehemann hält ihn als Zeichnung an der Wand fest, gleichsam als vom Objekt abgelöste Spur der Zeit. Standing at a still point of the turning world. Was ist ein Raum, dem die Tiefe genommen? Markus Weis' malerische Kompositionen verdecken. Was man sieht: Ausschnitte aus Innenräumen. Ein Vorhang zur Illusion, scheint sich zu bewegen, wirkt abstrakt; zu groß/mächtig im Verhältnis zum Betrachter. Der Raum davor und dahinter bleibt leer, aufgeladen von der eigenen voyeuristischen Spannung. Enthüllt ist man dadurch nur selbst. Besetzungen nennt Norbert Wiesneth seine Fotoarbeiten. Sie zeigen verlassene Orte, die Spuren der Geschichte tragen, gleichzeitig in der Fiktion keimen. Fremdkörper, die sich einen Raum zu eigen machen aufgrund einer Abwesenheit. Notizen von Geschichte(n) und ihren Metamorphosen. Barbara Eitel bezieht sich auf das Ausstellungshaus selbst. Was diesem zugrunde liegt. Sie zerlegt die Geschichte seiner deutsch-tschechischen Architektur und schafft damit eine Art historisches Leitsystem aus Bodenmarkierungen, über die man hinweggehen kann oder auch nicht. Letztlich hält unser Raum sich in den Grenzen, die wir selbst erfahren bzw. entwerfen.
Mehr Texte von Elvira Gross

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Raum : Selbst - Berlin-Brünn
24.06 - 14.08.2011

Brno House of Arts
60200 Brno, Malinovského náměstí
Tel: +420 542 213 883, Fax: +420 515 917 565
http://www.dum-umeni.cz/
Öffnungszeiten: Di-So 10-18 h


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