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Gedicht aus Bildern

Schon die erste Szene macht vieles deutlich: Zum Blick auf einen nur schwach beleuchteten, kahlen Baum vor einem schwarzen Nachthimmel, über dem Schneeflocken zu Boden fallen, spricht jemand das japanische Wort für „Licht“. Gleich darauf befindet sich der Zuseher in einem Raum, in dem eine Geburt statt findet, beobachtet und mit der Aufzählung von Wörtern wie Wasser oder Luft begleitet von einer Art Chor, der hinter einer Absperrung dem Geschehen folgt. Kein Zweifel, dieser Film funktioniert assoziativ. Man versteht, dass hier ein Ritual zu sehen ist, das den Beginn eines neuen Lebens begleiten soll. Man mag auch an den Chor im griechischen Theater denken oder an Rembrandts „Anatomie des Dr. Tulp“. Auch weitere Assoziationen sind möglich. Wichtig ist das Ende der Szene: Der „Chor“ ist bei „Aun“ (= der Anfang und das Ende aller Dinge) – angelangt, als das Kind geboren wird und Hikari (= das Licht), seine Mutter, stirbt. In wunderschönen, vom Künstler und Filmemacher selbst kadrierten Bildern wird in Edgar Honetschlägers neuem Film eine etwas verschwurbelte Geschichte erzählt. Es geht um den alten Traum der Menschheit mittels Wissenschaft die Zukunft besser und schöner zu gestalten. Dazu bedient sich der Japaner Sekai (= die Welt), der Vater von Aun, eines gefundenen Stücks Natur, der eigenartigen Schale einer Meeresschnecke – und stirbt beim Selbstexperiment. Viele Jahre später sucht Euclides, ein Wissenschaftler aus Brasilia – für Honetschläger der „Klimax der Moderne“ –, nach dem verschwundenen Aun, um von ihm das Geheimnis seines Vaters zu erfahren. Doch Aun, inzwischen Priester in einem Shinto-Schrein, entzieht sich dessen Nachforschungen. Doch noch in den Besitz der Meeresschnecke gekommen, wiederholt Euclides Sekais Experiment und erzeugt tatsächlich etwas Neues, das sich ausbreiten und die Welt verändern wird. Nicht ohne Grund haben die Hauptpersonen so symbolträchtige Namen, die etwa an einen antiken Mathematiker erinnern oder, wie Nympha, die Frau des Euclides, an mythologische Naturgeister (oder das adoleszente Entwicklungsstadium von Gliederfüßern). Die Bezugspunkte liegen einerseits bei der abendländischen Kulturgeschichte, andererseits bei einer vom animistischen Glauben an eine vom Göttlichen beseelte Natur geprägten japanischen Spiritualität. Beide Sphären existieren neben einander ohne sich zu mischen, aber sie stören einander auch nicht. So können sich etwa Japaner und Brasilianer in ihrer jeweiligen Muttersprache unterhalten und verstehen einander doch. Edgar Honetschläger kam es darauf an, ein „Gedicht aus Bildern“ zu schaffen, ein Konzept, das als Erzählweise wohl über weite Strecken, aber nicht immer völlig aufgegangen ist. Honetschläger sieht das gelassen. In einem Interview für die Austrian Film Commission meinte er, „dass man nur in seltenen Fällen die Handlung eines Filmes behält. Spätestens nach einem Monat bleibt nur ein Gefühl. Das hat mich interessiert. Die Bilder sprechen eine Sprache, die im Kopf des Zuschauers haften bleibt.“ Man sollte also keine Filmerzählung im üblichen Sinn erwarten, mehr eine Art schwelgerisches, immer wieder auch märchenhaftes Mäandern in den Grenzbereichen von Naturbewusstsein, Animismus und Wissenschaft, das große philosophische Fragen über den Eingriff des Menschen in die Natur berührt. „AUN“ ist ganz sicher kein Film für den breiten Publikumsgeschmack. Umso mehr werden ihn Fans des Unkonventionellen zu schätzen wissen.
Mehr Texte von Andrea Winklbauer

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