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Moderne Architektur ist öde

Plädoyer für eine Do-it-yourself–Kunst-am-Bau Kaum etwas prägt unsere Gefühle und unser Verhalten so stark wie die Gebäude, die uns umgeben. Sie sind der visuelle und emotionelle Stempel, der uns tagtäglich auf die Augen und in die Körper gedrückt wird. Jeder weiß beispielsweise, dass es sich in einem Gebäude von 1900 anders lebt als in einem Neubau. Ein jeder Neubau ist heute so raumhöhen-optimiert, dass drinnen größere Gedankenblasen bereits im Vorhinein platzen. Auch nach außen hin ist moderne Architektur in der Regel öde. Sie ist es nicht wegen des Unvermögens einzelner, sie ist es strukturell. Sie ist es, um einerseits effizient industriell bauen und vermarkten zu können, andererseits um den modernen Autofahrer nicht unnötig abzulenken. Das mit dem Autoverkehr ist tatsächlich ein kurioser Startpunkt der architektonischen Moderne: Doch der reibungslose Verkehr galt zu Anfang des 20. Jahrhunderts als „Weltaufgabe“, seine Lösung als „ethischer Mittelpunkt der Gegenwart“ (Walter Gropius). Besonders die Architekten fühlten sich gefordert: Hausfassaden und gewundene Straßenführungen sollten die Autofahrer nicht länger irritieren. Was die Gründungsväter der architektonischen Moderne (Peter Behrens, August Endell, Gropius u.a) um 1914 aus dieser Herausforderung machten, beschäftigt uns bis heute: Unsere Augen werden gelangweilt von schnurgeraden Linien und den immer gleichen effizienten Rasterkonstruktionen, unsere Sinne werden eingelullt von der Glätte verschmutzungsarmer Oberflächen und abgestumpft vom „ehrlichen“ Grau der immer gleichen Baumaterialien. Mittlerweile haben die Städte ihr Leitbild zwar offiziell vom Autofahrer wieder auf den Fußgänger umgestellt, in der Architektur-Dogmatik hat dies aber noch keinen Niederschlag gefunden. Um der von konstruktiven und ökonomischen Logiken erzeugten Langeweile zu entfliehen, um den jeweiligen Häusern Leben und eine Identität zu geben und den Passanten und Nutzern eine Intimität zu vermitteln, haben sich hingegen Praktiken entwickelt, die explizit auf besondere ästhetische Momente am Gebäude zielen. „Kunst“ soll „Architektur“ retten. Im wesentlichen bieten sich drei Wege zu solchem „künstlerischen Mehrwert“ an: Bei der ersten Strategie versuchen die Architekten und Architektinnen die Baumasse wie eine freie Skulptur zu formen (siehe die Bauten von Coop Himmelblau), bei der zweiten Strategie versuchen sie das Dilemma mit bunten oder modulierten Fassaden – oft gemeinsam erarbeitet mit den Grafikern des hauseigenen Leitsystems – in den Griff zu bekommen, bei der dritten Strategie wiederum handelt es sich um die klassische „Kunst am Bau“. Während die beiden ersten Optionen am Bild des einzelnen, autonomen Gestalters festhalten, akzeptiert die dritte Strategie eine Mischform, bei der verschiedene Gestalter Abstriche ihrer Autonomie zugunsten eines gemeinsamen Ganzen hinnehmen. Während diese gegenseitige Instrumentalisierung und Hybridität jahrzehntelang als großes Manko von „Kunst am Bau“ galt, hat sich in den letzten Jahren das Blatt auffallend gewendet. Die Ausdifferenzierung von Aufgabenfeldern ist alltäglich geworden, statt Autonomie gelten kooperative Verfahren und Kontextbezug als zeitgemäß. Bedingungen also, die in der Praxis von Kunst am Bau immer schon bestimmend waren. Und so kommt es, dass heute immer mehr avancierte Architekten und Künstler mit diesem Instrument arbeiten wollen. Kunst am Bau erlebt derzeit eine ungeahnte Renaissance. Und noch eine andere Kunstform blüht: Die so genannte „Street Art“. Ohne hier auf die Geschichte oder künstlerische Qualität dieser im Straßenraum anonym und völlig unökonomisch hinterlassenen Bilder und Objekte eingehen zu können (siehe dazu die aktuelle Ausstellung „Street and Studio“ in der Kunsthalle Wien), ist vor allem die damit einhergehende Selbstermächtigung bedeutsam: Gegen das Diktat der Reibungslosigkeit hinterlassen Stadtbewohner hier tatsächlich Spuren. Wie manifest, das kann man heute in Städten wie Berlin oder Hamburg sehen. Ich denke mir: Wie groß musste der Leidensdruck sein, der zu solch einem kreativen „Burst“ führen konnte? Street Art ist offensichtlich zivilgesellschaftliche Selbsthilfe.
Mehr Texte von Vitus Weh

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