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Jacques Derrida

Derrida war der Descartes des Diskurses. Er ist der einflussreichste Denker der Gegenwart geblieben, auch wenn den „Citation Index“ der meistgebrauchten Stichwortgeber andere dominieren. Bourdieu, Butler, Badiou lassen sich eingängiger lesen. Derrida setzte viel voraus, er war sehr philosophisch, und er schrieb ein ziemlich unübersetzbares Französisch. Anders als die Deutschen sind die Franzosen die Radikalisten nicht der Konzepte, sondern der Sprache. Wenn man es in ein anderes Idiom bringt, klingt es gern einmal prätentiös. In diesen Tagen wäre Jacques Derrida achtzig geworden. Gestorben ist er 2004. Das Wortgeklingel, das den Katalogbenutzern und Kunstmagazinlesern seit drei Jahrzehnten in den Ohren liegt, ist nicht zuletzt Ergebnis jener Sekundärlektüren, an deren Anfang irgendwann eine Derrida-Stelle lag. Seither treibt etwa das Diktum vom „sich Einschreiben“ sein Wesen. Längst hat es sich verselbständigt. Dass es einst damit zu tun hatte, was ein Diskurs ist, nämlich, wie Derrida es nennt, „die aktuelle, lebendige und bewusste Repräsentation eines Textes in der Erfahrung der Schreibenden oder Lesenden“, ist im allgemeinen Tumult des „s'inscrire“ erledigt. Streng genommen ist das „sich Einschreiben“ aber nur dort am Platz, wo es um Derrida geht. Und namentlich um sein Initialwerk, das 1967 in den Pariser Editions de Minuit erschienene „De la grammatologie. In „Dissémination“, dem Werk, das, 1972 ediert, die Grammatologie im Einflussreichtum beerbte, stellt Derrida folgende Formel in den Raum: „Wenn es also keine thematische Einheit oder keinen totalen Sinn gibt, der sich jenseits der textuellen Instanzen in einem Imaginären, einer Intentionalität oder einem Erlebnis wiederaneignen ließe, so ist der Text nicht mehr der Ausdruck oder die Darstellung (geglückt oder nicht) irgendeiner Wahrheit, die in einer polysemischen Literatur gebeugt oder versammelt würde. Der hermeneutische Begriff Polysemie wäre durch den der Dissemination zu ersetzen“. Der Eigensinn der Schrift, so ließe sich Derridas Sentenz auf den Begriff bringen, unterminiert jede Polysemie, also jede Annahme und Konstruktion einer Vielfalt von Bedeutung. An deren Stelle tritt eben Dissemination, der Entzug von Bedeutung sowie das Bewusstsein von einer letztlichen Unwichtigkeit semantischer Dimensionen. Derridas „Dekonstruktion“, dieser Begriff taucht zunächst noch ganz unscheinbar auf Seite 85 der Grammatologie auf, ist die Absage an Bedeutung. Zugleich aber trägt alles die Option auf Bedeutungszuteilung. Gerade weil Semantik zweitrangig ist, kann man mit ihr spielen. Der primäre Sinn ist in Gestalt dessen, was er „Spur/trace“ nennt, abgehandelt. Alles andere ist buchstäblich sekundär, und so ist Derrida auch der Gewährsmann schlechthin für jene Phänomene eines Darüber, Darunter und Dazwischen geworden, die ihre Verächter „Sekundärbetrieb“ nennen. Tatsächlich lässt sich dank Derrida nicht nur über alles reden. Es lässt sich auch alles reden. In der Immanenz des ewigen Aufschiebens und Differierens sind keine Schutzzonen angelegt. Oder, wie Derrida in der einschlägigsten aller seiner Aussagen zum Besten gibt (Grammatologie, 274): „Ein Text-Äußeres gibt es nicht.“
Mehr Texte von Rainer Metzger

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