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The Carnival Is Over

Als der britische Premierminister Harold Wilson am 19. Juni 1970 Downing Street 10 räumte, half ihm seine Familie beim Packen. Die Wahl vom Vortag war verlorengegangen, Edward Heath hieß der neue Regierungschef, und die Musik, die man immer wieder auf den Plattenteller legte, während man das Hab und Gut verstaute, schien der entsprechende Schlussakkord. Die Seekers, ein australisches Folk-Quartett, das mit seiner harmonieseligen Verträumtheit gut in die Mitte der Sixties gepasst und zu deren Schlüsselfilm „Georgy Girl“ das Titellied geliefert hatte, sangen „The Carnival Is Over“. Der Schabernack war vorbei: Das sollte sich auch für die Dekade sagen lassen. Nun würde eine neue Austerität einsetzen, und die Depression, die sich kulturell und vor allem habituell - in Gestalt der Hippies - längst angekündigt hatte, würde endgültig herfallen über die Gemüter. Zur Hybris der Sechziger wird sich dann ab 1979 die Nemesis zeigen, die Vergeltung in knochiger Gestalt von Margaret Thatcher, die nie einen Zweifel daran lassen wird, dass sie mit eisernem Besen auskehrt, was an Chaos liegengeblieben war. Noch weiß man nicht, ob es in Downing Street wieder einmal nötig ist umzuräumen. Die schöne Komplexitätsreduktion, die das Wahlrecht den Briten unermüdlich bescherte, ist jedenfalls perdu, und es hält Einzug, was Jürgen Habermas noch zu Zeiten von Madame Margaret die „Neue Unübersichtlichkeit“ nannte. „Hung Parliament“ gibt es, die Volksvertretung hängt in den Seilen, und es muss zu einer Koalition kommen. Das letzte Mal, als sich diese Konstellation ergab, 1974, noch vor der Eisernen Lady, hielt man es gerade ein Dreivierteljahr durch. Dann gab es Neuwahlen. Immer noch ist Großbritannien das einzige Land, das sich so etwas wie Gesellschaft leistet. Das weiß, was soziale Abstände sind. Und das erkennt, dass es das größte Glück des Menschen ist, nicht ständig seinesgleichen auf die Nerven zu gehen. Nur in Großbritannien sitzt man vielfältig auf Wiesen, stopft ungenießbares Zeug in sich hinein, nennt die Veranstaltung „Picknick“, und es sieht nicht lächerlich aus. Zu den vielen Facetten, die ein solches Bild von Fähigkeit zur Distanz zusammensetzen, gehört sicher auch die Funktionsweise des Parlaments. Regierung und Opposition sitzen einander gegenüber, und jeder Minister hat sein Pendant im Schattenkabinett. Das schöne Vis-à-vis ist jetzt erst einmal vorbei. Was nicht vorbei ist, wird der Karneval sein. Im Gegenteil: Jetzt beginnt er erst so richtig.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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