Rainer Metzger,
Das nackte Leben
Das Gymnasium, in dem die Zöglinge mit ihren Erziehungsbeauftragten Gymnastik treiben, kommt von griechisch „gymnos“. Das heißt „nackt“, und auf gruselige Weise wird jetzt, da täglich neue Skandale innerhalb und außerhalb der Kirche auf den Tisch kommen, Giorgio Agambens Wort vom „nackten Leben“ wieder aktuell. Man hatte Agambens „Homo Sacer“, vor einigen Jahren mit seinem Diktum „Das Lager und nicht der Staat ist das biopolitische Paradigma des Abendlandes“ die Bibel aller philosophisch Verwegenen, schon fast ad acta gelegt. Zu deutlich schien das 1995 im italienischen Original erschienene Werk auf die Zustände in Bosnien mit Massenvergewaltigungen und ethnischen Säuberungen zugeschnitten.
Jacques-Louis David, Joseph Barra, 1794
Das „nackte Leben“ leitet sich aus der römischen Antike ab, hier war der Homo Sacer, der „heilige Mensch“, der diesem Leben ausgesetzt ist, einer der getötet werden konnte, ohne dass dies als Mord galt. Agamben bemüht sich, den Begriff und was er meint aus der Sphäre des Kriminellen herauszuholen und zu versichern, dass die gesamte Moderne daraus zu verstehen sei. Das „nackte Leben“ ist geprägt von purer Körperlichkeit, es ist nichts als Leib, der agiert und reagiert, nutzt und benutzt wird. Die Massendemokratie von heute ist beherrscht von seinen Instinkten und Idiosynkrasien, von Verschmelzungswahn und Erlebnisrausch. Notgedrungen ist jede Gesellschaftlichkeit heute – Agamben übernimmt hier ein Wort von Foucault – Biopolitik. Keine Institutionen und keine Staatlichkeit können das Reiz-Reaktions-Schema mehr hemmen. Dass das so gekommen ist, sagt Agamben, konnte man schon vor Jahrhunderten erkennen, in der Erklärung der Menschenrechte durch die französische Revolution etwa, die humane Würde mit dem schlichten Faktum des Geborenseins verbindet.
Natürlich ist das Lager, wie es die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts perfektioniert haben, jener Ort, an dem das „nackte Leben“ in größter Drastik zur Kenntlichkeit gekommen ist. Jedoch, schreibt Agamben, „nur weil das biologische Leben mit seinen Bedürfnissen überall zum politisch entscheidenden Faktum geworden ist, besteht überhaupt die Möglichkeit, die sonst unerklärliche Geschwindigkeit zu begreifen, mit der in unserem Jahrhundert die parlamentarischen Demokratien in totalitäre Staaten haben umstürzen und die totalitären Staaten sich beinah ohne Übergangslösung in parlamentarische Demokratien verwandeln konnten.“
Vielleicht liefert der Homo Sacer, der ja nicht von ungefähr mit den Instanzen des Heiligen in Verbindung steht, auch eine Erklärung für das unerklärliche Schweigen über Jahrzehnte hinweg, das jetzt plötzlich von allen Seiten her gebrochen wird. Man wird nicht umhin kommen, auch die Internate zu den Modellen zu zählen, die Agamben als Lager sieht; auch hier war eine Quarantänestation des „nackten Lebens“ installiert, vor aller Augen und in dreistester Selbstverständlichkeit. Ich habe Agambens Buch bisher für übertrieben gehalten und seine Argumentation intellektuell eitle Koketterie mit dem Maßlosen. Gerade jetzt aber scheint mir seine Darstellung sehr triftig. Das „nackte Leben“, sagt Agamben, bedarf zu seiner Realisierung des Ausnahmezustands, eines Ausnahmezustands indes, der als Normalität betrachtet wird. Nichts anderes war unter der Fuchtel der Erziehungsinstitute der Fall.
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