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Der Weltmeister

Vielleicht bedurfte es der Erfahrung des zweiten Weltkriegs nicht, um den Existenzialismus entstehen zu lassen. Doch es bedurfte dieser Erfahrung sicherlich, um aus ihm, der eine Philosophie mit allen Signaturen des Schwerverständlichen, wenn nicht Hermetischen war, eine Lebenseinstellung zu machen. Man legte den speziellen Existenzialisten-Look auf, und es wurde Mode, schwarz gekleidet zu sein, im Rollkragenpullover aufzutreten, die filterlose Zigarette im Mundwinkel und die Daseinsproblematik im Herzen. Der Existenzialismus war geprägt von der Erfahrung, um nicht zu sagen, von der Erwartung des Scheiterns, und hinter jedem Sein lauert das Nichts, wie Jean-Paul Sartres berühmte tausendseitige Ausführungen es in Aussicht stellten. Wie sollte man in der Kunst damit umgehen? Was von existenzieller Warte her drohte und dräute, war das großgeschriebene Nichts, doch sie, die Bildnerei, hatte bestenfalls das kleingeschriebene; sie konnte nichts liefern, konnte Konzepte liegengelassen, Gemälde verwerfen, sich weigern, etwas auszustellen, oder schlichtweg schweigen. Aber das Nichts? Jeder Künstler weiß, was es heißt zu scheitern; doch ein verfehltes Unterfangen hat noch nichts Heroisches. Alberto Giacometti hat sich wie keiner seiner Zeitgenossen der Vierziger und Fünfziger Jahre jenem Wesentlichen und Wesenhaften angenähert, wie der Existenzialismus es zu greifen suchte. Giacomettis Gestalten sind von der typischen Unbehaustheit, wie sie die ruinöse Welt, die gerade der Katastrophe entronnen war, bot. Ob hager, ausgemergelt, ganz reduziert auf das von der Schwerkraft allernötigst Geforderte in der Skulptur oder eingesponnen in ein Netz aus Linien, verstrickt in die Textur der Leinwand im Gemälde: Seine Figuren kämpfen den Kampf gegen die Grundbedingungen ihres Daseins. Wie der Mensch der Realität auf die pure Basisversorgung seiner Subsistenz verwiesen ist, so der Mensch von Giacomettis Bildern auf die Materialität seiner Erscheinung. Weniger geht nicht an vorübergehender Fixierung eines Phantoms, und die Gestalt würde zusammenbrechen unter der Last der Tatsache, dass es sie gibt. Giacomettis Werk ist nicht anklagend, es enthält sich jeder deutlichen politischen Stellungnahme. Doch dass es um Versehrtheit geht, ist diesen Figuren jederzeit anzusehen. Giacomettis Welt ist in Mitleidenschaft gezogen. Er betreibt Kahlschlagfiguration – wie man in Anlehnung an das Wort von der „Kahlschlagliteratur“, das man auf die Werke deutscher Dichter wie Wolfgang Borchert oder Günter Eich bezogen hat, sagen könnte. Giacomettis Leistung besteht schließlich darin, dass er den Gestus des Ausgesetztseins jederzeit rückbindet auf das Material und das Medium, das dieses Ausgesetztsein vor Augen stellt. Existenz ist zeitlos; diese Existenz aber ist modern. Das hat ihm nun einen ganz aktuellen Status eingebracht. Er ist der Weltmeister in Sachen Auktionsergebnis. Und auch noch mit einem Auflagenobjekt. Das aber wäre ein anderes Thema.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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