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Kampf um die Stadt

Das Wien der Zwischenkriegszeit hat einen schlechten Ruf. Im Gegensatz zu seinem unmittelbaren Vorgänger, dem Wien um 1900, ist es viel eher unter- denn überschätzt. Es hat keinen kulturgeschichtlichen Rhapsoden wie Carl E. Schorske, dessen Studie über das „Fin de Siècle Vienna“ die Zeit und den Ort in all ihren Kompliziertheiten und Komplikationen meisterhaft auf den Punkt gebracht hat; es hat keine Tauglichkeit für den Blockbuster, mit dem es eine Ausstellung zum Thema wie seinerzeit 1985 „Traum und Wirklichkeit“ auf mehr als eine halbe Million Besucher brächte; es gibt auch keinen Verlag für Coffeetable Books als Massenware, der der Materie einen Bildband widmete, natürlich aus der Feder eines einflussreichen Kurators aus New York, wie es bei Kirk Varnedoes Kunstbuch bei Taschen der Fall war; und als die Londoner Tate Modern vor bald einem Jahrzehnt ihren Betrieb aufnahm und eine Schau namens „Century City“ präsentierte, war es neben „Paris 1905 – 1915“ oder „Rio 1950 – 1964“ selbstverständlich „Wien 1908 – 1918“, bei dem man pünktlich zum Beginn der Zwischenkriegszeit die Betrachtung dann wieder beendete. Nun gibt es unter martialischem Titel einen „Kampf um die Stadt“, und es ist auch ein Versuch, die kulturhistorischen Ungleichgewichte im Wortsinn in Angriff zu nehmen. Das Wien Museum hat dafür das ganze Künstlerhaus mit Beschlag belegt zur umfassenden Darbietung einer urbanen Idee. Anders als beispielweise das Berlin dieser Zeit hat es Wien für die 20er und 30er zu keinem Eintrag in die Liste der Musts gebracht, die man absolviert haben muss, will man etwas gelten als Historiker. Das Centre Pompidou hat seine Eröffnungsrunden vor dreißig Jahren mit Vergleichen gedreht, die Paris in Beziehung zu Berlin, Moskau und New York setzten. Wien kam nicht vor. In der dreibändigen Anthologie „Deutsche Erinnerungsorte“ gibt es zwar erstaunlicherweise Einträge zum Wiener Heldenplatz und zu den Türken vor Wien, der Text über den „Moloch Großstadt“ allerdings ist einzig auf Berlin konzentriert. Und so weiter. Karl Marx Hof, Foto © Österreich Werbung Dabei gibt es mindestens zwei Hervorbringungen im Wien der Zwischenkriegszeit, die mehr sind als Leistungsnachweise. In ihnen verdichtet sich die kulturhistorische Potenz des Gemeinwesens, und sie sind nicht weniger als der Beitrag dieses Ortes in dieser Zeit zur Weltkultur. Der Karl-Marx-Hof und Egon Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit“ markieren die absoluten Highlights der Jahre 1918 bis 1938: Ergebnis einer konzertierten Aktion von Politik und Notwendigkeit, Kühnheit und dem Bewusstsein um eine historische Sendung das eine, Produkt von Bildung, Raffinesse und der ureigen Wiener Mischung aus Ironie und Großartigtun das andere, beide aber auch hybride Setzungen mit der Absicht aufs Ganze, aufs Kollektive und Hochgetürmte. Das Stück Architektur und das Stück Historiografie verkörpern in Vollendung die neue, die andere Epoche nach den Verstiegenheiten und Getriebenheiten der Zeit um 1900, deren Umsetzung ins Ästhetische stets den Fokus auf die Individualität beibehielt. Für das Wien um 1900 war der Moloch Mensch immer noch eine Extrapolation der neurotischen Befindlichkeiten einzelner, und so konnte der antisemitische Bürgermeister Karl Lueger mit seiner notorischen Sentenz „Wer Jude ist, bestimme ich“ die Mentalität auf den Punkt bringen. Wenn die Nachkriegszeit eine Lektion bekommen hat, dann handelt sie davon, dass der Mensch in der Menge etwas anderes ist als die Summe der Einzelexemplare. Er fügt sich zu jener amorphen Einheit namens Masse, die nun mit allen Konsequenzen die politische Entwicklung bestimmt. Elias Canetti hat sie 1927 erlebt, beim Brand des Justizpalastes. Hier einige Zeilen aus seinen Lebenserinnerungen „Die Fackel im Ohr“: „Nichts ist geheimnisvoller und unverständlicher als die Masse“, erinnert er sich: „Ein für allemal hatte ich hier erlebt, was ich später eine offene Masse nannte, ihre Bildung durch das Zusammenfließen von Menschen aus allen Teilen der Stadt, in langen, unbeirrbaren Zügen... ich hatte erlebt, daß die Masse zerfallen muß und wie sie diesen Zerfall fürchtet... ich sah, daß die Masse auf der Flucht sein kann, ohne in Panik zu geraten... ich erkannte, daß die Masse keinen Führer braucht, um sich zu bilden... wenn es etwas Herausragendes gab, das die Masse entfachte, so war es der Anblick des brennenden Justizpalastes.“ Der brennende Palast: Die Masse ist es, die, mit den bekannten Folgen, den Kampf um die Stadt trägt.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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