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Über Eindringlichkeit und leise Töne

Der Wettbewerb der 59. Berlinale Schon ein Blick auf die Liste der diesjährigen Berlinale-Wettbewerbsfilme ließ Schlimmes ahnen. Da waren: einiges an Mainstream, viel Nachwuchs und wenige Meister, alte zumeist, deren aktuelle Werke teilweise außer Konkurrenz liefen. Nicht, dass man dem Nachwuchs nichts zugetraut hätte: Den neuen Spielfilm der deutschen Regisseurin Maren Ade etwa hatte man nach ihrem Erstling „Der Wald vor lauter Bäumen“ (2003) mit Spannung erwartet. Zu Recht: Der Film „Alle anderen“ über eine Zweierbeziehung am Prüfstand eines Ferienaufenthalts besticht nicht allein durch die verspielte, insistierende Performance von Birgit Minichmayr, die dafür den Silbernen Bären als beste Darstellerin erhielt, sondern überzeugt auch als kluge, fein differenzierte Studie über den Stand von Geschlechterverhältnissen und die Relationen zwischen Individualismus und Konformismus im heutigen Deutschland. Als künstlerisch anspruchsvollster Film des Wettbewerbs teilte sich „Alle anderen“ den Großen Preis der Jury mit „Gigante“, dem Beitrag aus Uruguay. Von den arrivierten MeisterInnen konnten immerhin Bertrand Tavernier mit seinem Südstaaten-Krimi-Mystery „In the Electric Mist“ und Sally Potter mit „Rage“ punkten, während Tom Tykwer mit dem platten Mainstream-Thriller „The International“ seinen künstlerischen Bankrott besiegelte. Es war klar, dass der überwältigende Teil der kommenden Filmkunstwerke dieses Jahres nicht in Berlin zu sehen sein würde, sondern in Cannes oder Venedig. Das ist eine traurige Entwicklung, die aber einer hausgemachten Logik folgt: Was haben Auteurs wie Lars von Trier, Michael Haneke oder die Coen-Brüder in Berlin zu erwarten, wenn die Bären Jahr für Jahr weniger nach künstlerischen als nach thematischen Kriterien vergeben werden? Die Stichworte dieses Jahres hießen in Berlin, vielleicht noch mehr als bisher: Betroffenheit und Erinnerung. Und damit ist es auch kein Wunder, dass ein Werk wie „La teta asustada“ (The Milk of Sorrow ) der peruanischen Regisseurin Claudia Llosa den Goldenen Bären gewonnen hat. Der Film handelt von ererbtem Frauenleid: Eine junge Peruanerin, deren Mutter zur Zeit ihrer Schwangerschaft von Guerilleros brutal vergewaltigt wurde, lebt deren Trauma weiter. Aus Angst, das Schicksal ihrer Mutter teilen zu müssen, steckt sie sich eine Kartoffel in die Vagina, die austreibt und Beschwerden verursacht. Das Verdienst um das implizite Gedenken an die Verschleppung, Folterung und Ermordung von zigtausend Menschen durch die Guerilla-Organisation "Leuchtender Pfad" zwischen 1980 und 2000 macht „La teta asustada“ aber noch lange nicht zum Kunstwerk. Mit Mitbewerbern wie Hans-Christian Schmids „Sturm“, in dem es ebenfalls um ungesühnte Vergewaltigung und Kriegsverbrechen geht, Rachid Boucharebs „London River“ um die interkulturelle Begegnung zweier älterer Menschen, die einander nach dem Terroranschlag in London 2005 auf der Suche nach ihren verschwundenen Kindern kennen lernen, oder „Eden à l'Ouest“, der von dümmlichen Wohlstandsbürgern nur so strotzenden Geschichte eines illegalen Einwanderers in Frankreich von Costa-Gavras, verbindet „La teta asustada“ eine geradezu schmerzhafte Glätte und Kunstlosigkeit. Die viel beschworenen „leisen Töne“, das „genaue Beobachten“, die „Eindringlichkeit“ sind zu schwabbeligen Vokabeln eines betroffenheitsbewegten, politisch korrekten Filmjargons geliert. Wo bleibt der innovative medienimmanente Ansatz, wo das Wagnis, dem Zuseher eine neue Sichtweise zu offerieren, wo die Leidenschaft, ihn durch Irritationen und Widersprüche eine komplexere Realität als die darstellbare ahnen zu lassen? Es klingt im Zusammenhang mit den genannten Themen fast obszön, diese Qualitäten einzufordern und doch sei genau das hiermit nachdrücklichst getan. Denn Film kann viel mehr, als nur konsensfähige Geschichten transportieren. Warum sonst sollte man sich später an die Bären-Preisträgerfilme erinnern? Oder sie noch einmal sehen wollen?
Mehr Texte von Andrea Winklbauer

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