Rainer Metzger,
Synästhesie
Letzte Woche bekam ich nicht ganz unwichtige Post von einem nicht ganz unwichtigen Künstler österreichischer Herkunft. Er mache so etwas normalerweise nicht, stand in dem Brief geschrieben, aber diesmal bitte er um Mithilfe. Er brauche einen Titel. Das neueste Werk sei diesbezüglich geradezu bemitleidenswert verwaist. Auf die orthodox moderne Version, ein titelloses Bild "ohne Titel" zu nennen, wollte er sich auch nicht verlegen. Also machten wir Bekannten und Kombattanten uns auf die Suche.
Mir selbst ist nichts Besonderes eingefallen. Ich schlug vor, was ich öfter mal vorschlage, nämlich "Gespräch über Bäume", der Bemerkung Bert Brechts und seiner Hoffnung entsprechend, die "Nachgeborenen" mögen in besseren Zeiten leben. Solche Zeiten sehe ich in der Tat gekommen, und wir können uns alle hemmungslos die Köpfe zerbrechen über Kunst. Mein Titelvorschlag, der so generell passte wie er speziell danebengriff, wurde zu niemandes Schaden verworfen.
Wilhelm Trübner hat einmal folgende treffenden Zeilen auf Wilhelm Leibl gemünzt, der notorisch verkannt war von seinen Zeitgenossen des späteren 19. Jahrhunderts: "Schreibt nun ein Maler unter ein Bild, das den höchsten Ansprüchen entspricht: ‚Drei Frauen in der Kirche’, so hält das der ästhetisch verbildete Laie oder Maler für ein geistloses Kunstprodukt, wohingegen wenn der Beschauer als Titel darunter liest: ‚Bäuerinnen beten für ihre im Felde stehenden Angehörigen’, er es plötzlich für ein fesselnd-interessantes und geistvolles Gemälde halten wird."
Nicht auszudenken, wenn man diesen verzweifelten Rat tatsächlich beherzigte und einem, Gott bewahre, laienhaften Publikum mit ganz Fesselnd-Interssantem käme. Wenn, zum Beispiel, Walter Niedermayr eines seiner Pistenfotos nannte: "Herbert Batliner auf dem Weg in die Albertina, um im Gefolge des Liechtensteiner Steuerskandals seine Bilder in Sicherheit zu bringen." Oder wenn ein Selbstakt von Elke Krystufek mit einem Mal hieße: "Allem beflissen zur Schau gestellten Feminismus zum Trotz schafft es die ‚Presse’ nach wie vor nicht, Künstlerinnennamen richtig zu schreiben." Oder wenn man ein Foto vom Heldenplatz auf das Thema brächte: "Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz erkennen."
Aus gutem Grunde aber sind Künstler nicht so brachial. Das in Frage stehende Werk bekam übrigens den Titel "Synästhesie."
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