Werbung
,

Herlinde Koelbl - Jüdische Portraits: Was wir erben

Was zeigt ein Gesicht? Wovon kann ein Gesicht handeln: kann ein Gesicht von Religiösität oder Atheismus, von europäischem oder österreichischem oder deutschem oder jüdischem Denken handeln? Wieviel Verwandtschaft zu einer größeren Gruppe als der eigenen Familie kann ein Gesicht beinhalten? Portraits zeigen Gesichter. Jüdische Portraits, könnte man folgern, zeigen jüdische Gesichter. Was ist jüdisch? Herlinde Koelbl fotografierte vier Jahre Menschen, die in Europa geboren wurden und dem Holocaust entkommen konnten. Die Aufnahmen zeigen Männer und Frauen in schwarzweißen Großformaten. Manche Gesichter sind angeschnitten, manche lehnen den Kopf in die Hand. Manche sitzen auf einem Sessel, auf einem Stuhl. Sichtbar ist, daß alle sich in einer körperlich eher entspannten Situation befinden, daß sie sich ohne Prätention oder Koketterie fotografieren lassen, daß die Begegnung mit Herlinde Koelbl sie nicht hinter wuchtige Schreibtische oder vor dramatische Hintergründe geklemmt hat. Neben jedem Porträt findet sich ein gleich großes Blatt, auf dem Name, Geburtsjahr und -ort über einigen Zeilen Text stehen, Auszüge aus den Interviews, die Herlinde Koelbl während ihrer Begegnungen gemacht hat. Von George Tabori kann man über die Notwendigkeit jüdischer Witze als Distanzmittel zur Katastrophe lesen und den furchtbarsten und furchtbar kürzesten deutschen Witz. Die überlebte Katastrophe erscheint in dem Moment vor Augen, in dem man sich überlegt, wie viele Geschwister, Eltern, Vettern, Kusinen, Onkel, Tanten, Freunde, Nachbarn und Bekannten der Portraitierten nicht portraitiert werden konnten, weil sie mit bestialisch profitorientierter Planung umgebracht wurden. In diesem Moment können wir auf die meisten unserer Großeltern ganz und gar nicht stolz sein. Wie war es möglich, daß Oma und Opa sich vom braunen Geiferhetzen so einwickeln ließen, daß sie hinterher nichts bemerkt haben wollten? Wie sehr haben sie uns ihre Feigheit und ihr Phlegma vererbt? Welche Eigenschaften lassen sich vererben, welche werden zugeschrieben? In ihrem Vorwort zur Ausstellungseröffnung erwähnte Herlinde Koelbl, daß sie während dieser Arbeit zum ersten Mal auf Menschen traf, deren persönliche Atmosphäre ihr so intensiv bereichernd begegnete, daß sie sie als ihre ersten Vorbilder wählte. Nicht Verbitterung sei ihr begegnet, sondern Neugier und Herzlichkeit - beides, ein offener und vergnügter Blick finden sich in vielen Gesichtern. Wenn dies das Jüdische ist, dann wäre es eine Eigenschaft, die man gern erben würde.
Mehr Texte von Gesche Heumann

Werbung
Werbung
Werbung

Gratis aber wertvoll!
Ihnen ist eine unabhängige, engagierte Kunstkritik etwas wert? Dann unterstützen Sie das artmagazine mit einem Betrag Ihrer Wahl. Egal ob einmalig oder regelmäßig, Ihren Beitrag verwenden wir zum Ausbau der Redaktion, um noch umfangreicher über Ausstellungen und die Kunstszene zu berichten.
Kunst braucht Kritik!
Ja ich will

Werbung
Werbung
Werbung
Werbung

Herlinde Koelbl - Jüdische Portraits
05.02 - 23.03.2008

Westlicht
1070 Wien, Westbahnstrasse 40
Tel: +43 1 522 66 36 - 0, Fax: +43 1 523 13 08
Email: info@westlicht.com
http://www.westlicht.com
Öffnungszeiten: Di, Mi, Fr 14-19, Do 14-21, Sa, So, Fei 11-19 h


Ihre Meinung

Noch kein Posting in diesem Forum

Das artmagazine bietet allen LeserInnen die Möglichkeit, ihre Meinung zu Artikeln, Ausstellungen und Themen abzugeben. Das artmagazine übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt der abgegebenen Meinungen, behält sich aber vor, Beiträge die gegen geltendes Recht verstoßen oder grob unsachlich oder moralisch bedenklich sind, nach eigenem Ermessen zu löschen.

© 2000 - 2024 artmagazine Kunst-Informationsgesellschaft m.b.H.

Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Gefördert durch: