Rainer Metzger,
Die Spielregeln der Kunst - In memoriam Pierre Bourdieu (1930 - 2002)
\"Die Erfahrung des Kunstwerks als unmittelbar mit Sinn und Wert versehen ist eine Wirkung der Übereinstimmung zwischen den beiden Seiten der gleichen geschichtlichen Institution, der kultivierte oder gebildete Habitus und das künstlerische Feld, die sich wechselseitig begründen: Unter der Voraussetzung, daß das Kunstwerk als solches, d.h. als ein mit Sinn und Wert ausgestattetes symbolisches Objekt, nur existiert, wenn es von Betrachtern erfaßt wird, die mit einer stillschweigend verlangten ästhetischen Disposition und Kompetenz ausgestattet sind, läßt sich sagen, daß das Kunstwerk als solches vom Auge des Ästheten erschaffen wird, aber nur, wenn man sogleich daran erinnert, daß dieser dies nur in genau dem Maße vermag, in dem er selbst das Produkt einer langen Beschäftigung mit dem Kunstwerk ist.
Dieser Kreis, der jenem des Glaubens und des Heiligen entspricht, ist auch der Kreis jeder Institution, die nur funktionieren kann, wenn sie gleichzeitig in der Objektivität eines gesellschaftlichen Spiels und in den Dispositionen gegründet ist, die zu Interesse und Teilnahme an diesem Spiel führen. Die Museen könnten über ihren Eingang schreiben - aber sie brauchen es nicht, da es sich von selbst versteht: Keiner trete hier ein, der nicht Kunstliebhaber ist. Das Spiel ruft die illusio hervor, den Spieleinsatz des versierten, mit Spielsinn ausgestatteten Spielers, der, wie für das Spiel geschaffen, weil durch das Spiel geschaffen, das Spiel spielt und dadurch erst dem Spiel Existenz sichert.
Das Feld der Kunst bringt gerade erst durch sein Funktionieren die ästhetische Disposition hervor, ohne die das Feld nicht funktionieren könnte. Besonders aber und vor allem vermittelt über die Konkurrenz, die die Spielteilnehmer in Widerspruch zueinander setzt, reproduziert es unaufhörlich das Interesse am Spiel, den Glauben an den Wert dessen, was auf dem Spiel steht.\"
Aus: Pierre Bourdieu, Die historische Genese einer reinen Ästhetik, 1992
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