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Kopie ohne Grenzen

Vor lauter Jubiläen wissen wir schon wieder nicht, wo uns der Kopf steht. Da ist Mozart, unser Lieblingsschädel. Da ist Freud, der vor 150 Jahren geboren, und Heine, der vor 150 Jahren gestorben ist. Rembrandt feiert den 400sten, und im März werden es auch schon wieder 2.050 Jahre, da man Julius Cäsar erstach. 2006 wird auch ein Pilzjahr, aber dem widmen wir, wenn es soweit ist, eine eigene Glosse. Da kommt es sehr gelegen, dass es exakt am 14. Jänner 1506 war, da man in Rom die Laokoongruppe ausgrub. Das ist genau das richtige Thema für heute. Laokoon ist nicht weniger als der Ausgangspunkt für die berühmteste ästhetische Debatte der Moderne. Die Frage, warum es auf dem Kopf der mythischen Gestalt so seltsam ruhig zugeht, wo sein Träger doch soeben mitsamt den Söhnen von Schlangen erwürgt wird, zieht sich durch zweieinhalb Jahrhunderte. Die Antwort hat die Mentalitätsgeschichte auf den Weg gebracht und die Gattungsästhetik, und noch Michael Frieds Kritik an der Minimal Art oder Peter Bürgers "Theorie der Avantgarde" leben davon, auch wenn die Autoren es nicht mehr wissen - der eine, weil er jenes Deutsch nicht kann, in dem Debatten einst geführt wurden, der andere, weil er sich für avanciert und damit völlig frei von der Vergangenheit hält. Der Laokoon hat die Moderne auf den Weg gebracht, und er hat es auf eine ihr sehr entsprechende Weise getan. Laokoons historischer Ort besteht im Grunde aus deren drei. Der erste ist das Pergamon des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts; hier wurde die Figurengruppe in Bronze gegossen und den Römern, denen man sich im Jahr 133 dann kampflos, nämlich per Testament des letzten Königs, auslieferte, als Staatsgeschenk übergeben. Die Römer, man kennt es aus vielen Beispielen, nahmen die Bronzeunikate zu Prototypen ihrer Marmorkopien, und in der frühen Kaiserzeit entstand auch die Version, die wir heute kennen. Im Palast des Kaisers Titus, dem zweiten Ort, hat Plinius der Ältere sie gesehen und in seiner Naturalis Historia so lobend erwähnt, dass sie berühmt war, ohne dass man sie kannte. Der dritte historische Ort ist dann das Rom vor 500 Jahren, als man die Gruppe wiederfand. Michelangelo vor allem tat sich sogleich hervor in der Interpretation des Bildwerks als Hauptwerk, vor allem deshalb, weil die Hautschwellungen und Muskelspiele der hellenistischen Gestalten so trefflich den eigenen glichen, die damit wohlfeil als der Antike parallele Kunststücke im Raum standen. So entsteht also die Moderne Die Laokoongruppe ist eine Kopie. Ihr Marmor ist ein Surrogat. Und ihre Wiederaneignung im 16. Jahrhundert ist eine Projektion. Lang lebe Laokoon.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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