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Das Gesetz der großen Zahl

Seit mehr als vierzehn Tagen ist keine Schlagzeile vergangen, die nicht von Südostasien, der Flutwelle und den Opfern handelte. Selten noch hat sich in der aktualitätsgeilen Berichterstattung ein Ereignis so lange als Nummer eins gehalten. Dass das weniger mit der schieren Anzahl der Toten und dem puren Ausmaß der Katastrophe zu tun hat als mit dem Zehntel der Betroffenen, die aus Europa stammen, ist klar. Der Reichtum an Geld und Gefühlen in den im übrigen so kalten Ländern amortisiert sich für die Ökonomie der Aufmerksamkeit. "Vielleicht hat der Dämon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und so mächtig seine Schauer über die Erde verbreitet." So erinnert sich Goethe in seinem "Dichtung und Wahrheit" an das Geschehen in seiner Kindheit, das man jetzt wieder gern zum Vergleich heranzieht. Das Erdbeben von Lissabon des Jahres 1755 hat die Welt und vor allem die in ihrer Aufklärung wohlig eingerichteten Gemüter erschüttert. Erschüttert ist man heute wieder, und so gesehen ist der Vergleich durchaus triftig. Einen gewichtigen Unterschied aber gibt es, und er markiert eine Epochenzäsur. Damals hat man gefragt: Warum war Gott nicht da? Heute muss man fragen: Warum waren so viele da? Das Erdbeben von Lissabon hat, so kann man sagen, den Gott der alten Welt zu Grabe getragen, und es ist eines der wichtigsten Ereignisse, die zur Moderne führten. Die Antwort nämlich, warum Gott das alles geschehen ließ, lieferte unserer Epoche das Fanal. Gott läßt das Böse zu, weil es Freiheit gibt. Die beste aller möglichen Welten, sie war so eingerichtet, dass es Zonen gab, in denen sich die Allmacht in die Ohnmacht fügte. Und wenn es solche Zonen gab, dann ließen sie sich auch herstellen. Revolution war der ganz irdische Begriff für eine solche Herstellbarkeit. Gott hat sich zurückgezogen seither, und an seine Stelle trat der Mensch. Besser, an seine Stelle traten viele Menschen. Die Moderne hat ihre Erfahrungen gemacht mit Masse und Macht. Wenn es heute nicht mehr das Kollektiv ist, das für Furcht und Schrecken sorgt, so ist es seine dem Gemütlichen und Hedonistischen verschriebene Schrumpfform, die ihre gehörige Präsenz beansprucht. In einem Kinderbuch gibt es die beste Definition für das einschlägige Prinzip. Der Vater schimpft auf die "Touristen"; das Mädchen kontert: "Wir sind doch auch nur zu Besuch"; darauf der Vater: "Wir sind aber nicht so viele". Viele waren es an den Stränden, und wenn man einigem von dem mancherlei in den letzten vierzehn Tagen Geschriebenen glauben darf, waren nur wegen ihnen auch viele Einheimische dort. Den Menschen vor Ort ist das Meer durchaus suspekt, aber das gute Leben und das gute Geld der Auswärtigen hat sie angezogen. Notgedrungen. Das Gesetz der großen Zahl ist unerbittlich.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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