Jean-Luc Vilmouth: Das Äußere nach innen kehren
Wir sehen einen Mann auf einem breiten Gehsteig, der mit einem Besen Laub zu einem Haufen zusammenkehrt. Das schwarz-weiß Foto zeigt also einen gewöhnlichen Vorgang, dem wir als Passant:in wohl keine weitere Aufmerksamkeit schenken würden. Im nächsten Foto darunter sehen wir den gewachsenen Laubhaufen und den kehrenden Mann, der nun das Laub offensichtlich bei einer Tür in ein Gebäude hineinkehrt – von einem Moment auf den anderen kippt die Aktion des Laubkehrens in eine ungewöhnliche, fast traum-ähnliche Szenerie. Der Kehrende in der 1975 entstandenen Fotoserie ist Jean-Luc Vilmouth, der im letzten Foto den Laubhaufen schließlich vollends von der Straße in sein Atelier verschoben hat.
Der 1952 in Frankreich geborene und 2015 in Taiwan verstorbene Künstler hat viele Jahre unseren Umgang mit Objekten und der Welt untersucht, ist mit der Welt „in Kontakt getreten“, um eine Sprache zu finden für eine alternative Erzählung, wie wir unserem Umfeld mit mehr Achtsamkeit begegnen können.
Die Begegnungen mit Menschen auf seinen vielen Reisen waren für Vilmouth Basis und Antrieb für seine künstlerischen Produktionen, besonders nachdem er sich in die Regenwälder Südamerikas begeben hatte. Die schwierigen Lebensbedingungen und die Zerstörung der Lebensgrundlagen der indigenen Völker machten ihn zu einem frühen Fürsprecher und künstlerischen Aktivisten, ohne jedoch anstatt ihrer für deren Sache zu sprechen. Diesen „eine Stimme zu geben“ verstand Vilmouth durchaus wörtlich, wie z. B. in der Installation „Jungle Science“ im kleinen hinteren Raum der Galerie Winter zu erleben ist. Die Stimmen des Urwalds, Menschen wie Tiere, aufgenommen von Jean-Luc Vilmouth selbst, umfangen die Besucher:innen in dichtem, in grünes Licht getauchten Nebel. Die Transpositionierung in eine neue, unbekannte, simulierte Umgebung bewirkt eine Fülle an sensorischen Eindrücken und inneren Bildern.
Die immersive Erfahrung überschreitet die Grenzen des Dokumentarischen ebenso wie die große Installation „From the Amazon“ im Hauptraum der Galerie. Sie basiert auf der Geschichte der Helena Valero, die 1932 im Alter von 12 Jahren von den Yanomami gekidnappt wurde und der erst im Alter von 36 Jahren die Flucht gemeinsam mit ihren vier Kindern zurück zu ihrer ursprünglichen Familie gelang. Doch die Rückkehr stellte sich als schwierig heraus. Helena führte ein Leben als „Gestaltwandlerin“ zwischen den Kulturen, wurde nirgends mehr wirklich akzeptiert, kehrte schließlich zu den Yanomami und ihrer kleinen Hütte zurück. In der von ihr verfassten und in der Ausstellung aufliegenden Lebensgeschichte gibt sie tiefe Einblicke in die bis dahin weitestgehend unbekannte gesellschaftliche Struktur jenes Volkes, das ihr zur zweiten Heimat geworden war.
Ob Objekte oder Menschen, Jean-Luc Vilmouth fordert uns zu einem sensiblen, wachsamen und unvoreingenommenen Umgang auf. Das Hören, Sehen, Berühren und die Erfahrung der Sinne durch das innerste Selbst begründen das Verhältnis zwischen den Dingen und uns als Basis aller Existenz. Denn „…Dinge existieren nur, sofern sie in Beziehung zu ihrer Umwelt stehen, zu dem, was sie umgibt ...“, Jean-Luc Vilmouth, 1990.
08.03 - 19.04.2024
Galerie Hubert Winter
1070 Wien, Breite Gasse 17
Tel: +43 1 524 09 76, Fax: +43 1 524 09 76 9
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Sa 11-14h