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Disenchantment. Curated by 2023

Ein bisschen froh bin ich schon, nicht allein mit dem Gefühl der Enttäuschung zu sein, nachdem sich die Idee von "Neutralität" als Mär entpuppt hat. Immerhin war auch für Roland Barthes das "Neutrale" entzaubert, als sich die entsprechende Sennelier-Farbe als gemeiner Farbton herausstellte, nicht anders in seiner Klassifizierbarkeit und Handelbarkeit als alle anderen Farben.

Auch Maximilian Geymüller beobachtet in seinem Impuls Essay zum heurigen Curated by Festival eine Abwertung des Begriffs. Die "neutrale" politische Positionierung sei heute mehr Bekenntnis zur falschen ("losing side"), denn zu keiner Seite. Sie ist eigentlich nicht mehr haltbar.
Und schließlich bilden unsere Verhältnisse zu menschlichem und nicht-menschlichen Leben ein so eng geknüpftes Netz von Abhängigkeit und Verantwortung, dass auch ein "neutrales" Leben ohne soziale und ökologische Schuld kaum mehr möglich scheint.
Kurz, die Sprache erweist sich als unzulänglich, ein tückischer Freiheitsbegriff ist verloren gegangen und eine jede Schachtel öffnet sich ein nächst größeren.

Den Kurator*innen ist diese Enttäuschung keine Grablegung wert. Es gibt weder Trauerfeier noch Nachruf. Die Reaktionen versuchen sich stattdessen an einer Sezierung der Überreste, was entweder in Verleugnung kippt (Neutralität, das gibt es ja gar nicht) oder eine Umdeutung/Umwidmung vornimmt (Neutralität ist eigentlich...). Wenn nicht sogar das "Neutrale" als Schändlich-Schädliches zerstückelt wird (nicht ganz zu Unrecht).
An einer Gottformel, dem Unbenennbaren, leuchtend Farblosen, dem Rahmensprengenden wird sich eher nicht herangetraut. Zugegeben, das wäre viel verlangt. Es liegt in der Natur der Sache des Ungreifbaren, Unabschließbaren und Undifferenzierbaren, dass es sich des direkten Zugriffs verweigert. Es scheint mir aber auch nicht - bei Inkaufnahme des Scheiterns - gesucht.

Wo aber der gefallene Held ohne Nachfolge bleibt - und, ein zweites Mal zugegeben, der Wunsch danach ist bestimmt reaktionär, aber auch Barthes war wohl nicht gefeit davor -, da wird auch kein pragmatischer Realismus als Ersatz geboten. Zum Beispiel wird das Gegebensein (politischen/moralischen/ontologischen) Konsens' wie Dissens', den es trotz aller Relativität gibt, weitgehend unterschlagen. Das von den Galeriewänden widerhallende Es-ist-alles-eine-Frage-der-Perspektive wird so zur Formel, auf die man sich zurückzieht.
Und Fragen von aktueller politischer Relevanz, die sich auftun können (Was ist Neutralität im multipolaren, dezentralen oder 4-dimensionalen Raum? Bedeutet Demokratie eine homogene Verteilung oder die Balance von schwergewichtigen Mächten?) werden nicht adressiert.

Der Text von Maximilian Geymüller offenbart zu Beginn ein Bedürfnis nach einer explizit politischen Auseinandersetzung mit dem "Neutralen", aber er endet mit der grundsätzlichen Aufforderung nach einer Orientierung am Barthes'schen Verständnis des Begriffs, das eines von Non-Binarität, von subversiver Aktivität und von Un-Abgeschlossenheit/Fluidität ist. Ersteres wird abgesehen von wenigen Ausnahmen ausgelassen, beziehungsweise zeigt sich, wenn, dann auf der Mikro-Ebene angegangen. Und Letzteres lässt die Negation im "Non-Binären", "Un-Abgeschlossenen", "Wider-Kämpfenden" selten hinter sich. Was das Neutrale alles nicht ist, darüber herrscht Einigkeit; ausgewichen wird der Frage, was es aber ist. 

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Abbildung : Lamya Gargash, A Meaningful Conversation, 2022, C-type Print, 120 x 120 cm
Credits: Image Courtesy of the artist and The Third Line, Dubai.

Mehr Texte von Victor Cos Ortega

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