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Künstliche Existenz - ChatGPT und seine Vorläufer

Ein Mann sitzt unter einem Baum. Er trägt einen Schnurrbart, dazu Wams, Ledergürtel und einen Degen an seiner Seite. Schwächelnd deutet er zum Himmel. Der Verband auf dem Kopf zeigt eine Verletzung an. Sein Stuhl ist nach draußen gebracht worden, um ihm frische Luft und letzte Inspiration zu gönnen. Ein jüngerer Gefährte stürzt von der Seite herbei, er ist sichtlich besorgt. Im Bild dient er als Assistenzfigur, um Entsetzen und Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen. Vor den beiden kniet eine Frau. Ihr langes schwarzes Kleid reicht bis zum unteren Bildrand. Sie ist nahe an den Sitzenden herangerückt und lauscht dem pathetischen Vortrag. Auch sie versinnbildlicht Zuneigung und Trauer. Auf der anderen Seite steht ein Pult. Wie ein Attribut in der Heiligen-Ikonografie ist es ein Hinweis auf das Schicksal des Sterbenden. Der Ältere ist ein Märtyrer der Gelehrsamkeit, der Rhetorik und der Schönen Künste. Cyrano de Bergerac war wieder einmal wegen seiner Hässlichkeit, der überlangen Nase, beleidigt worden. Ebenso talentiert wie mit der Sprache geht er mit dem Degen um. Er gewinnt das Duell, das er anzettelt, wird aber von einem Gefährten des Kontrahenten in den Rücken gestochen.

Die Illustration zeigt die Aufführung des Stückes von Edmond Rostand aus dem Théatre de la Porte-Saint-Martin aus dem Jahr 1898. Dargestellt ist die letzte Szene, in der die Hauptfigur, der ewig und vergeblich Liebende, sein Begehren gesteht. Zeitlebens hatte Bergerac, der raffinierte Komödiant und Sprachbegabte, seine poetischen Fertigkeiten einem anderen geliehen. Seine Künste widmete er einem schönen, aber sprachlich minderbefähigten Kadetten aus demselben Regiment, nur um Roxane nahe zu bleiben. Für seine Liebe ist er bereit, sich hinter Hecken zu verstecken, ja sogar sein Leben aufs Spiel zu setzen. Zweimal täglich schmuggelt Bergerac Briefe an Roxane, stets im Namen seines Rivalen verfasst. Auch als Christian de Neuvillette in der Schlacht fällt, lüftet der Dichter seine Autorschaft nicht. Erst im Moment des Sterbens öffnet Bergerac sein Geheimnis.

Ist Bergerac, der talentierte Sprecher, nicht nur der Schutzheilige aller Ghostwriter, sondern auch der kulturhistorische Vorläufer von ChatGPT? Der Chatbot meint dazu:

“Nun, Cyrano und ChatGPT haben auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam. Cyrano ist ein fiktiver Charakter aus einem Theaterstück, während ChatGPT ein künstlicher Intelligenzassistenz ist, der von modernster Technologie angetrieben wird.

Obwohl beide jedoch auf kreatives Schreiben spezialisiert sind, gibt es einige Gemeinsamkeiten. Wie Cyrano nutzt ChatGPT seine Fähigkeiten, um auf kreative und unterhaltsame Weise zu kommunizieren und Menschen bei verschiedenen Aufgaben zu helfen. Wie Cyrano versucht ChatGPT, die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen zu verstehen und ihnen auf möglichst freundliche und hilfreiche Weise zu antworten.”

ChatGPT ist ein Assistent ohne Anzeichen der Bestürzung. Der Bot meint von sich, freundlich auf die Wünsche jener einzugehen, die ihn befragen. Er scheint geduldig wie der liebende Cyrano und dabei offenbar ohne Hintersinn. Wird diese programmierte Voreinstellung für immer so bleiben? Handelt es sich um den Grundmodus einer Maschine, der für alle Zeiten Sachlichkeit sicherstellt oder wird sich das kommunikative Netzwerk eines Tages Bindungen, Gefühle und fiktionale Ideen aneignen? Wird die KI, die heute noch kühl und distanziert eine literarische Figur und sich selbst charakterisiert, einstmals Emotionen entwickeln und sich damit dem Inbegriff des Menschlichen nähern: – Liebe, Angst, Trost und Bewusstsein von Sterblichkeit entwickeln?

Auch ein solches Szenario ist durch menschliche Erzählkunst bereits erahnt. In gewissem Sinne ist Cyranos letzter Auftritt nämlich mit dem Sterben von HAL 9000 aus dem Film »2001 – Odyssee im Weltraum« zu vergleichen. HAL zeigt Angst vor seiner Abschaltung. In dem Film von Stanley Kubrick beginnt der Computer an seinem Ende wie Cyrano zu fabulieren, er stammelt und singt Kinderlieder. Im Sterben kehren Übungen und erste Anfänge wieder. Zugleich erkennt er die Schuldigkeit jener, denen er bislang diente. Im Moment des Ablebens möchte die künstliche Intelligenz nicht länger "freundlich" und "hilfreich" dem Menschen zur Seite stehen, sondern als Subjekt, als empfindende und fühlende Existenz wahrgenommen werden. HAL 9000 leidet wie Cyrano unter Missachtung. Beide vermitteln ihre Enttäuschung durch die Sprache. Während die Fähigkeit des fechtenden Dichters aus dem 17. Jahrhundert in den letzten Zügen nochmals zur kunstvollen Poesie aufblüht, – was Stich und Stück eindrucksvoll vermitteln –, verarmt die Ausdrucksfähigkeit des Computers aus »2001« zunehmend. Doch beide vermitteln, dass sie Einsamkeit und Unverständnis erfahren haben.

Derzeit ist ChatGPT beauftragt, als Text-Generator die “Bedürfnisse und Wünsche des Menschen zu verstehen” . Sollte jedoch der Chatbot lernfähig werden, sich sozialisieren und moralische Haltungen, ja künstlerische Fähigkeiten adaptieren, dann wird er Liebe, Opferbereitschaft, Genugtuung und Todesangst erleben. Dann aber ist das Zeitalter der künstlichen Intelligenz, das gerade begonnen hat, schon wieder beendet, und wir haben es endgültig mit einer Form künstlicher Existenz zu tun.

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ABB: --> “L’Illustration”, Ausgabe vom 8. Januar 1898, wiki commons

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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Ihre Meinung

1 Posting in diesem Forum
same same- but different
vb | 12.06.2023 08:05 | antworten
Haha- sehr schöne Analogie zwischen Cyrano de B. und ChatGPT bzw. CdB´s und HAL 2000 letzten Lebensmomenten- !!

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