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Esther Stocker: Lustvoller Regelbruch

Im Jahr 1915 zeigte Kasimir Malewitsch zum ersten Mal ein Bild, das die bildende Kunst von Grund auf verändern sollte: Ein schwarzes Quardat auf weißer Leinwand. Das Publikum der Ausstellung „0,10“ war pflichtschuldigst schockiert, doch für die Malerei war es ein radikaler Befreiungsschlag, weg vom Gegenständlichen. Die Abstraktion begann damit an ihrem Nullpunkt bzw. dem Ende des Universums, einem schwarzen Loch. Von da an war alles möglich...

Da reihen sich zum Bespiel viele kleine Quadrate auf weißem Hintergrund aneinander. In genau definierten Abständen füllen sie die quadratische Bildfläche, doch plötzlich durchbricht ein Impuls die starre Anordnung und einzelne Quadrate beginnen zu schwingen, verlassen das strenge Raumgitter. In einem weiteren Bild sind es weiße Quadrate auf schwarzem Grund, die aus dem Raster ausbrechen, aus dem Bild zu fallen scheinen. Es wunderte nicht, wären die Elemente auf einem Bildschirm angeordnet und ihre Auflösung durch einen Algorithmus gesteuert.

Doch die Künstlerin Esther Stocker situiert ihre Werke in den klassischen Disziplinen Malerei und Skulptur wobei die Überschreitung der Grenzen zwischen den Dimensionen konstituierend für ihre Auseinandersetzung mit Fläche und Raum ist. Eine mit strengem geometrischem Muster überzogene Leinwand wird etwa aufgebrochen, gefaltet, zerknüllt und in sich selbst gekrümmt, bis eine Sphäre aus flirrenden Linien entsteht, die den Bildraum aufbricht und die Wahrnehmung irritiert. Anderswo fallen ganze Rasterelemente scheinbar aus der Bildebene, wie bei einem Mikado-Spiel auf die Leinwand geworfen. Dabei ist jede Störung, jeder Bruch der Ebenen kein Willkürakt, geschweige denn dem Zufall überlassen. Esther Stocker setzt ihre Elemente ganz bewusst, gestaltet jede Bruchlinie, jede Irreführung der Wahrnehmung mit Präzision. Seltener wird eine malerische Handschrift sichtbar, wie bei jenen Arbeiten in denen horizontale Linien wie bei der Hirnstrommessung eines EEG, in einem wilden Zucken dem starren Regelwerk entkommen und quasi einen Geistesblitz signalisieren. Eine besondere Strenge verleiht Stocker ihren Arbeiten durch die strikte Beschränkung auf die Nicht-Farben Schwarz und Weiß. Vereinzelt verwendet sie ein zartes Grau, das ihre zwischen der zweiten und dritten Dimension changierenden Raumkonstrukte konstituiert.

Die Retrospektive, die die Künstlerin im Kunstraum von Anderl/Weber selbst gestalten konnte, lässt notgedrungen die vielen Rauminszenierungen aus, die Esther Stocker bisher in Museen und vor allem im öffentlichen Raum gestaltet hat, wie etwa ihre beeindruckende, über 20 Meter hohe Wandmalerei im neu renovierten Österreichischen Parlament. Doch die Auswahl zeigt einmal mehr, dass eine groß angelegte Retrospektive in einem österreichischen Museum längst überfällig ist.

https://www.anderlweber.com

Mehr Texte von Werner Remm

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