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Arglose Zeug*innen

Sind entscheidende Wendungen immer gleich sichtbar? Nehmen die Dinge ihren gewohnten Lauf und wir erst nach einiger Zeit Erschütterung und Zäsur wahr? Wie sehr gilt das für politische Veränderungen? Wie viel Aufmerksamkeit und kritische Masse braucht es, um einen Sturz zu registrieren? 

Wir befinden uns in einer Küstenlandschaft. Im Vordergrund ist ein Bauer zu sehen, der einen Pflug hinter sein Pferd gespannt hat. Die beiden ziehen Kerben über das trockene, leicht abschüssige Land. Intuitiv folgt der Blick diesen Furchen, die aus der Enge hinaus auf das Meer führen. Darunter liegt eine Terrasse, auf der ein Hirte seine Schafe hütet. Er wirkt müde, stützt sich auf einen Stock. Neben ihm wacht sein Hund. Die Schafe rupfen an den Gräsern des kargen Bodens. Einige steigen in das dichte Laubwerk hinab, die Mehrheit sucht die trockene Erde ab, darunter auch zwei schwarze, die sich wie der Hirte vom Meer abwenden. Hinter den bodenständigen Szenen im Vordergrund eröffnet sich ein grandioser Blick in die Ferne. Das Auge erwandert Küsten und Landstriche zu beiden Seiten der See, die Ferne verdünnt die Kontraste. Das Meer glänzt in weich türkisem Grün. Die Sonne geht unter. Die Stimmung wird episch und feiert die Schöpfung. In der malerischen Tradition ist der Hintergrund für den Goldgrund reserviert. Nun scheint er irdisch geworden wie eine nautische Karte, aber noch immer kosmisch beseelt. Links ragen Felsen auf, dahinter eine in den Berghang gebaute Stadt. Die Trennlinien von Natur und Kultur verschwinden in dem impressionistischen Farbgemisch aus schimmerndem Weiß, Gelb, Blau und Grün. Auch auf der gegenüberliegenden Küstenseite befinden sich perlmuttfarbene Gebirge, auf dem Meer, das wie ein Fjord wirkt, einige Inseln. Auf einer ist ein Tor aus dem hohen Felsen heraus gemeißelt, eine andere, weiter hinten liegende, zeigt eine flache Oberfläche. Dazwischen sind große Schiffe zu sehen, begleitet von kleineren Booten, die den Hafen ansteuern. Im Vordergrund rechts, wo sich das Meer ins smaragdfarbene Grün verdüstert, bilden sich Kräusel von Wellen. Dort befindet sich ein Kriegsschiff, seine Takelagen und Masten sind beeindruckend. Das aufgeblähte Vorsegel zeigt die Windrichtung und den Kurs in Richtung Stadt. Pieter Bruegel der Ältere malt kriegerische Flotten mehrfach, unter anderem eine Seeschlacht an der Straße von Messina. Die Grotte auf der Insel weist auf das Seeungeheuer der dort ansässigen Skylla hin. Doch dieses Detail bleibt ebenso wie der Angler, der auf der Klippe Platz genommen hat, angesichts des strotzenden Dreimasters fast unentdeckt, ebenso wie das eigentliche, tragische Geschehen: der Sturz des Ikarus. Eben verschwindet der Held, der die Götter durch eine Erfindung herausfordert, in den Fluten. Kopfüber taucht er ein. Der gemächliche Lauf der Dinge wird durch das Unheil zerrissen, das Bild wird zum Tatort. Erst Ovids Vorlage für den Stoff gibt Auskunft über die Berechtigung der Staffage: Ein Bauer, ein Hirte und ein Fischer beobachten Ikarus und Dädalus, wie sie in die Lüfte steigen. Bei Bruegel sind die Zeugen anwesend, nehmen jedoch das Verhängnis nicht wahr.

Das Video geht sofort viral. Eine junge Frau führt eine Aerobic-Stunde im Freien vor. Die Trainerin trägt einen neongelben Anzug und einen Mund-Nasen-Schutz. Die flotten Schläge der Musik treiben sie zu stechenden Bewegungen. Manche erinnern an Kampfsport und Drohgebärden. Hinter ihr dehnt sich ein mehrspuriger Boulevard. Die Bodenmarkierungen, die Biegung der Straßenlaternen und verdunkelten Fahrzeuge erinnern an das berühmte Gemälde von Bruegel, ja selbst die senkrechten Streifen in der Kleidung, dazu noch der Blick in die dunstige Ferne. Die Influencerin veröffentlicht ihre Fitnesseinheit auf Facebook. Das Video wird zum geschichtlichen Zeugnis, denn – offenkundig von ihr unbemerkt – trifft hinter ihr ein Konvoi schwarzer Limousinen in der Aufmarschstraße in Myanmars Hauptstadt ein. Ein Militärputsch ist in Naypyidaw im Gange. Aung San Suu Kyi, Friedensnobelpreisträgerin und demokratische Freiheitsikone des Landes, gewinnt die Parlamentswahl, doch die Militärs zweifeln das Wahlergebnis an. Am ersten Februar kommt es zum Putsch. Wie in manieristischer Manier schildert das Video das Verderben als bildlichen Nebensinn. Und ähnlich wie bei Bruegel zeigt sich die Einfalt der Arglosen, die den Sturz erst dann registrieren, wenn er längst vollzogen ist.

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Abbildungen:
Pieter Bruegel der Ältere (fraglich), um 1555-1568
Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
Öl auf Leinwand, 73,5 x 112 cm
Königliche Museen der Schönen Künste, Brüssel

 

Khing Hnin Wai
Video, Still
Facebook Post, 1. Februar 2021
https://www.youtube.com/watch?v=JJrql5eoa1Q
geladen am 4. Februar 2021

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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