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Stoffe im Raum: Eine akademische Befragung

"Was ist Stoff überhaupt?"- Noch radikaler kann eine Annäherung an eine Materie kaum formuliert werden. Die Textilkünstlerin und Weberin Otti Berger analysierte in ihrem Text "Stoffe im Raum" (1930) gleichsam das Geheimnis der Stoffwerdung, von der Verkreuzung der Fäden, den unterschiedlichen Bindungen und der Materialwahl. Daraus ergibt sich der "Griff", das Taktile, eines der wesentlichsten Merkmale eines Textils, das eben "begriffen" werden will. Natürlich spielt auch die Farbwahl eine entscheidende Rolle und nur aus der Kenntnis sämtlicher Parameter würden - quasi intuitiv - "lebendige" Stoffe entwickelt. Weiters meint "Stoffe im Raum" ganz pragmatisch jene Textilien, die den Wohnraum zweckmäßig mitgestalten: Vorhänge, Wandbespannung, Möbelstoffe.

Die Textstellen von Otti Berger gehörten einerseits zu den Lehrinhalten des dreisemestrigen Seminars mit Schwerpunkt Textil für Studierende der Universität für angewandte Kunst Wien und der Akademie der bildenden Künste Wien unter der Leitung von Ulla Rossek und Sabeth Buchmann. Andererseits hat die zur Teilnahme eingeladene Berliner Künstlerin Judith Raum (*1977) ihre Arbeit "Stoffbesprechung" auf diese elementaren Fragen aufgebaut. In einer Videoprojektion auf authentisch nachgewebten Stoffen zeichnet sie das Leben Otti Bergers als Lehrende am Dessauer Bauhaus und als selbständige Designerin von Gebrauchsstoffen für namhafte Architekten nach. Tragischerweise konnte Otti Berger dem Ruf Moholy-Nagy's nach Chicago nicht rechtzeitig folgen und wurde 1944 in Auschwitz ermordet.

Insgesamt sind in der Sala Terrena der Universitätsgalerie Heiligenkreuzer Hof die Arbeiten von 23 Künstler:innen zu sehen. Da es in dem speziellen Lehrgang durchaus um eine Reflexion über die Verflechtung des Textilen mit Entwicklungen in Technik und Wirtschaft bzw. mit kulturellen und sozialen Verhältnissen ging und durch die Kooperation mit der Kunstsammlung und dem Archiv der Universiät für angewandte Kunst Wien anschauliche Objekte zur Verfügung standen, findet man in der Ausstellung ausgewhälte Objekte aus den 1920-40er Jahren, einige Werke zeitgenössischer Künstler:innen und studentische Arbeiten referenziell kombiniert und gegenübergestellt.

In den ersten beiden Tischvitrinen finden sich originale Webarbeiten von Friedl Dicker von 1920 sowie Stoffmuster von Maria Likarz-Strauss, die sie für die Wiener Werkstätten entworfen hatte. Man meint, auch die dritte Vitrine enthält Stoffmusterentwürfe jener Zeit (was prinzipiell stimmt), doch hier handelt es sich um die Arbeit von Anna Bochkova. Die Studentin hat akribisch genau konstruktivistische Muster-Druckvorlagen aus den Jahren 1923/24 kopiert, die Ljubow Popowa und Warwara Stepanova für die erste Moskauer Baumwolldruckfabrik entworfen hatten. Die beiden russischen Künstlerinnen lehrten zudem an der avantgardistisch orientierten Kunsthochschule WChUTEMAS /WChUTEIN in Moskau. Etwas freier im Nachvollzug geht Katharina Hölzl der Struktur des kleinen Webstücks aus schmalen, farbigen Lederstreifen von Friedl Dicker nach. Es ist eine grafische Interpretation, Bleistiftstrich versus Faden, bei der weniger die konkrete Webstruktur interessiert, vielmehr die Musterbildung durch Bindungsmuster - und in einem weiteren Schritt verlieren sich die Strichfäden lose im Raum des Blattes.

Zur Bluse von Maria Likarz-Strauss (um 1928) die passende Halskette? Julia Znoj ist Annie Albers und deren "Necklace" (ca. 1940) auf der Spur, konstruiert die Metall-Kugelkette mit den angeklipsten Haarnadeln nach und nennt sie "Cosmic War". Angriff und Verteidigung gleichermaßen. In unmittelbarer Nachbarschaft hängen je zwei kleine Stoffcollagen von Geta Brătescu (1926 - 2018), der frühen rumänischen Konzeptkünstlerin und Marei Buhmann, die sich im Lauf des Lehrgangs mit dem Thema Wohnlandschaften auseinandersetzte und dazu textile Mini-Assemblagen zusammenstellte.

Die Gemeinschaftsarbeit von Vanessa Schmidt & Philip Tankarian changiert assoziativ zwischen den archaischen Handwebtechniken, die nur sehr schmale Formate bzw. Bänder hervorbrachte, und der Freiheit, jenseits aller hochtechnisierten Möglichkeiten, sich neugierig und spielerisch-frech auf das Abenteuer Weben einzulassen, bei dem auch "unwebbares" Material wie Zwiebelsäckchen flächig als Schuss zwischen die Kettfäden geschoben wird. Die Arbeit besteht aus mehreren Einzelteilen und spiegelt das Besondere dieses Studienjahres, aber auch einen Aspekt des Textilen wider: Im Corona-Lockdown waren die Räumlichkeiten und Geräte der 'Angewandten' den StudentInnen nicht zugänglich und so wurde zu Hause gearbeitet, was bei vielen textilen Produkten (allerdings mehr im privaten Bekleidungsbereich) durchaus üblich war/ist. Und Schmidt bediente sich der Materialen vor Ort, z.B. der Metallbügel des Wäschetrockners als Webrahmen. Schmidt-Tankarian nehmen in dieser Zusammenarbeit stark Bezug zu den Weberfahrungen von Ingrid Wiener, Valie Export und Dieter Roth aus den 1960er Jahren, die bestens dokumentiert sind durch Werke, Briefverkehr und Tagebuchaufzeichnungen. Eine Umkehrung der Geschichte fand insofern statt, als Philip Tankarian seine Kollegin bat, ihm das Weben zu zeigen. Ingrid Wiener, von der zuletzt ein umfangreicher Katalog zu ihrer langjährigen Webtätigkeit publiziert wurde (--> hier die artmagazine Rezension des Buches), ist selbst mit drei Gobelins vertreten. Im Kontext dieser Ausstellung darf natürlich ihre Arbeit "Jaquardbindung" (1961/2019) nicht fehlen, in der Theorie und Praxis des Webens gleichermaßen inhärent sind.

Paravants, sofern sie mit Textil bespannt sind, entsprechen unwillkürlich genau dem Ausstellungstitel. Zwei Exemplare sind vertreten. Małgorzata Mirga-Tas (Zakopane, 1978), die an der 11. Berlin Biennale mit einer Schau im KW Institute for Contemporary Art teilnahm, ist mit einem dreigliedrigen Stellschirm im Heiligenkreuzer Hof vertreten. Ihre enge Verbindung zu einer Roma-Siedlung in Polen liefert ihr die Themen, die sie bildhaft umsetzt. Es sind Collagen aus gesammelten und geschenkten Textilien kombiniert mit gemalten Figuren, die sie zu - weiblichen - Alltagstätigkeiten bunt und lebendig szenisch zusammenstellt. Extern, im Foyer der 'Angewandten', ist der Paravant von Christian Ludwig Attersee aufgestellt, den Ingrid Wiener Anfang der 1980er Jahr gewebt hat. Als Leiter der Malereiklasse übernahm Attersee nach 1992 auch den Bereich Tapisserie in seine Klasse. Auch das Prinzip, Studierende und Lehrende gemeinsam auszustellen, wurde 2005 bereits erprobt. A propos Malerei - da sticht Quirin Babl mit einem streng schwarz/weiß gehaltenen Bild heraus: ein steif gestärkter, zur Halskrause gewellter, schneeweißer Spitzenkragen als Solitär auf schwarzem Grund.

Da die Ästhetik, die verwendeten Techniken und die Elaboriertheit der gezeigten Arbeiten doch zum Teil weit auseinanderklaffen, erfordert es durchaus ernstes Interesse am und Verständnis für das kompositorische Setting, den Hintergrund und die einzelnen Zugangsweisen bei den studentischen Arbeiten, um die Ausstellung mit Gewinn zu erleben. Als kluge Geste wurde ein Postkartenset zusammengestellt, in dem alle Arbeiten der Künstler:Innen samt Kurztext (dt/e) abgedruckt sind und das auf Wunsch gratis mitgegeben wird.

Mehr Texte von Aurelia Jurtschitsch

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Stoffe im Raum
11.02 - 10.04.2021

Universitätsgalerie im Heiligenkreuzer Hof Wien
1010 Wien, Schönlaterngasse 5 oder Grashofgasse 3
Tel: 71133-2160, Fax: +43 1 711 33-6309
Email: pr@uni-ak.ac.at
http://www.dieangewandte.at
Öffnungszeiten: Mi--Sa 14-18 Uhr


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