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Das Aufleben einer Ästhetik des Stadtrandes

Was haben Städte wie Moskau und Wien gemeinsam? Beide Städte befinden sich derzeit durch den Zuwachs neuer Bezirke auf Expansionskurs, allerdings unter verschiedenen soziokulturellen Vorzeichen. Während Moskau einst als Epizentrum radikaler sozialer, urbaner und kulturpolitischer Experimente galt, zeichnet sich heute im Moskauer Stadtraum ein Bild der Gegensätze ab. Infrastrukturen für Kunst im öffentlichen Raum schwächeln am Umsetzungswillen. Während unter der Schirmherrschaft von Vladimir Putin Unsummen zur Festigung der Beziehungen mit der orthodoxen Kirche und eines wiederaufflammenden Nationalismus in einen Historienkult investiert werden, wie sich an der 2017 installierten monumentalen Bronzeskulptur des Fürsten Vladimir (Schutzpatron der Russischen Orthodoxen Kirche) im Zentrum drastisch abzeichnet, verlagert sich das Betätigungsfeld junger Kurator*innen und Künstler*innen in die Peripherie, wo in rasanter Geschwindigkeit von privaten (meist von Oligarchen) betriebenen Immobilienkonzernen neue Stadtbezirke zwischen Vorstadthäusern emporschießen.

Dem Phänomen wie sich kulturelle Dynamiken und Energien zwischen dem Zentrum der Stadt und Bezirken außerhalb gestalten, geht das von Simon Mraz (seit 2010 Leiter des österreichischen Kulturforums in Moskau und bekannt für seine Umtriebigkeit in Kunstagenden) konzipierte Projekt „Na rajone / Sa predelami zentra“ (Im Viertel / Außerhalb des Zentrums) nach und spürt dabei in Moskauer Stadtvierteln wie Ismailowo, Lublino oder Sewernoe Tschertanowo eine „Ästhetik des Stadtrandes“ auf. Den Ausgangspunkt bilden die Moskauer Arbeiter*innenbezirke, sowie die sogenannten „Grünen Bezirke“ und neuen Bezirke. Mit dem 2018 begonnenen und bis 2020 fortlaufenden transdisziplinären Projekt wurden auf Nachhaltigkeit setzende Initiativen gestartet und bis dato 8 Ausstellungen realisiert, die mitten im realen Leben im urbanen Raum angesiedelt sind. Wie sich dadurch neue Zugänge für Kunst und Publikum im direkten Austausch und auf der Bildung von Commuities basierend eröffnen, ist vorangiges Thema. Gleichzeitig betreibt das Projekt „Na rajone / Sa predelami zentra“ konsequent eine Intensivierung des Austauschen zwischen Wien und Moskau durch Kooperationen mit Institutionen wie der Basiskultur Wien/SHIFT, dem Wien Museum, dem Moskino mit dem Film Museum Wien, der V-A-C-Stiftung oder dem Architekturzentrum Wien.

„ Das Wiener Modell des sozialen Wohnbau. Eine Erfolgsgeschichte“ im Moskauer Kulturzentrum ZIL

Unter dem Titel „ Das Wiener Modell des sozialen Wohnbau. Eine Erfolgsgeschichte“ wurde bis Ende November im Moskauer Kulturzentrum ZIL (ein legendärer avantgardistischer Architekturbau der Brüder Visnin) ein Querschnitt zur Geschichte des sozialen Wohnbaus in Wien gezeigt, die den Besucher*innen Know-How über Charakteristiken des Wiener Gemeindebaus, geförderte Wohnformen und Gemeinwesensarbeit oder Mieterhilfe durch auf Stellwände affichiertes Bild- und Dokumentationsmaterial sowie aufliegende Broschüren vermittelte. Besonders betont wurde während der Eröffnungsrede von der Wiener-Wohnen-Direktorin Karin Ramser, wie intensiv daran gearbeitet wird, anknüpfend an das mittlerweile 100-jährige soziale Erbe neoliberalen, globalen Spekulationsgeschäften durch eine soziale Wohnbaupolitik standzuhalten. Was in Moskau wie die Reinkarnationen eines gelebten Sozialismus ankommt und in Wien lebenden Menschen oft nicht so bewusst ist, mehr als 60 Prozent der Wiener*innen leben heute im sozialen Wohnbau und es existiert weiterhin dringender Bedarf an leistbaren Wohnungen. In Moskau gestaltet sich die Lage zunehmend problematisch. Die während der Ära Nikita Chruschtschows aufgrund des Wohnmangels entstandenen Standardplattenbauten, die sogenannten Chruschtschowkas (Wortspiel aus Chruschtschow und Armenviertel), die bis zum Ende der Sowjetunion gebaut wurden und nach der Perestroika von den Moskauvit*innen günstig gekauft werden konnten, werden seit Anfang der 2000er-Jahre von der Stadtregierung mit dem Argument baufällig abgerissen. Korruptionsfälle durchdringen die Bauwirtschaft, sodass von den Bewohner*innen längst anstehende Sanierungsarbeiten hinausgezögert werden, außerdem mangelt es an einer funktionierenden Infrastruktur der Gebäudeverwaltung. Die vormaligen Bewohner*innen können sich die neuen Wohnungen nicht leisten und leben in beengten Verhältnissen bei Angehörigen. Dass die Vertreter*innen der Moskauer Stadtregierung inspiriert durch die Ausstellung sich ein alternatives für alle leistbares Wohnbaumodel überlegen, bildet einen unterschwelligen Appell des Projektes.

In Situ – Wir sind alle Kunst

Eine Stadtkarte in der die Studios und Wohnorte der Künstler*innen eingezeichnet sind, nahmen die Moskauer Kurator*innen Kristina Pestova und Anna Koszlovskaya für ein einjähriges Rechercheprojekt in Angriff, und zum Anlass in ihrem Projekt „In Situ“ vor allem den Austausch zwischen Künstler*innen und der Nachbarschaft zu pflegen. Zwar gibt es theoretisch Unterstützung von der Moskauer Künstler*innen Vereinigung, dem Kreativverband russischer Künstler*innen oder der Vereinigung Russischer Künstler*innen doch praktisch agieren diese sehr bürokratisch und es existiert akuter Studiomangel. 54,2 % der in Moskau lebenden Künstler*innen verfügen über kein Studio, 77,8 % sind der Meinung dass Künstler*innen auch im digitalen Zeitalter ein Studio brauchen, 78,5 % finden, dass die Umgebung in der sich das Studio befindet wichtig für sie ist. Austragungsort der Ausstellung „In Situ“ war Mitte Oktober das Zentrum für kreative Industrie „Fabrika“. Dieses befindet sich in einer ehemaligen Papierfabrik, die heute neben Werkstätten, eine Druckerei, einen Literatur- und Kunstverlag, Künstler*innenstudios und Artist-in-Residence Programme beherbergt. Fabrika – 30 Minuten vom Zentrum Moskaus entfernt – gilt als weltoffener und frei zugänglicher Ausstellungsort. Der in Moskau lebende Künstler Dima Grin schuf einen Garten für die Einheimischen im Industriegebiet um "Fabrika", Anna Tagantseva-Kobzeva eröffnete ein Studio im Einkaufszentrum "RTS" und machte es zu einem Ort für Begegnungen. Anya Kravchenko reflektierte die komplexe und inkonstistente Umgebung des Stadtgebietes von VDNKh und dokumentierte dessen Verblassen. Ebenfalls einquartiert sind in der Fabrika Künstler*innen für einen dreimonatigen Auslandsstudioaufenthalt vom österreichischen Bundeskanzleramt, die wie Hannes Zebedin, Vasilena Gankovska, Kirsten Borchert oder Elisabeth Grübl sich am Projekt beteiligten. Vasilena Gankovska zeichnete Bilder von Kinos am Rande der Stadt, die eine wichtige bildungspolitische Funktion hatten und jetzt zu Shoppingmals umgewandelt werden. Hannes Zebedin befasste sich mit der Rekonstruktion des Shukhov Funkturm, der als einer der ersten Meisterwerke der konstruktivistischen Architektur gilt und der die Höhe eines Chruschtschowka-Gebäudes haben sollte. Kirsten Borchert reagiert auf die rege Bautätigkeiten und die verhüllten Gebäude in der Umgebung und entwarf dazu künstlerische Pendants. Die Garteninstallation von Dima Grim wurde zu einer „Sehenswürdigkeit“ des Stadtteils. Die Reaktionen darauf fielen unterschiedlich aus. Einige kritzelten auf das Projektbeschreibungsschild „antiästhetisch“, andere posteten Videos vom Garten auf Instagramm oder beteiligten sich direkt an der Aktion indem sie Blumen und Töpfe mitbrachten. Elisabeth Grübl erstellte eine Enzyklopädie postkommunistischer Lebensformen.

Im Kino Zvezda, Ulitsa Zemlyanoy Val, 18/22 , стр.2, Moskau, 105064 präsentiert wurde im Rahmen des Projektes „NA RAJONE / Beyond the center” von 17.-20.10.2018 der Film “I am the city”, der über eine Zeitspanne von 6 Monaten in Kooperation zwischen dem Moskino und dem Österreichischen Filmmuseum realisiert wurde und auf einem open call basiert. Auf der Website www.iamthecity.moscow.ru konnte von Moskauer Bürger*innen Material hochgeladen werden. Das vorläufige Resultat dieses als work in progress angelegten Projektes zeigt neben Schnappschüssen vom Zentrum Moskaus, Straßezüge und private Aufnahmen von den 1960er Jahres bis heute und zeichnet ein anderes, teils sehr persönliches Bild von Moskau - Momentaufnahmen und vorbeiziehende Bilder von Straßenmusikanten mit Handykameras aufgenommen.

Wo die Dinge wohnen

Teil des großangelegen Projektes ist auch das „Museum für Industriekultur“, das sich in dem Stadtviertel Ljublino unweit von Plattenbauten in einem militärisch abgesperrten Gebiet befindet und demnächst deloggiert werden soll, wogegen es massive Protestehagelt. Defacto handelt es sich bei dem Museum um ein Sammelsurium von in einer Industriehalle gestapelten Industrie- und Alltagsgegenständen. Vor der Halle und als ordnende Intervention dazwischen installiert befindet sich das in Kooperation mit dem Wien Museum entstandene Fotoprojekt von Klaus Pichler „Wo die Dinge wohnen“ – zum Theme „Self Storage Phänomen“, das Lagerräume zeigt und sich damit beschäftigt, welche Dinge wir aufbewahren und welche entsorgen, sowie mit dem praktischen und emotionalen Wert der Dinge.

Es wird für Kunst gevotet

Wie in Wien entstehen in Moskau derzeit neue Viertel, die innerhalb weniger Monate völlig das Landschaftsbild verändern. Was wohnen außerhalb des Zentrums für Möglichkeiten bietet, thematisiert die Ausstellung Einraumwohnung. Als „soziale Skulptur“ wird ein Einzimmerappartment gezeigt, das sogenannte „Odnuska“, das als Kunstzentrum und Artist-in-Residenz-Projekt genützt wird und vom RDI-Unternehmen unter der Aksenov Familenstiftung betrieben wird. Um das Interesse der Bewohner*innen für Kunst zu mobilisieren wurde durch das Novomolokovo “Odnushka” project ein Skulpturenwettbewerb initiiert an dem sich Künstler*innen aus Moskau und Wien wie Marlene Hausegger, Gabriele Edelbauer und Julia Goodmann, Albert Allgaier oder Jascha Jakob Schieche teilnahmen. Das Voting erfolgte unter Beteiligung der Bewohner*innen in der örtlichen Bibliothek, die übrigens nach Vorbild des Wiener Kommunalbaus Teil des neu errichteten Wohnblock ist. Als Sieger des Projektes gingen die skulpturale in Form einer Pflanze gestaltete Plattform von Jascha Jakob Schieche hervor. Präsentiert wurden die Modelle der Skulpturen elf Tage lang in Schaufenstern.

Kunst gegen häusliche Gewalt

Skulptural, mit einem Hang zu einer direkten die Komplexität der Problematik teils entschärfenden Formensprache konfrontiert sich die Wiener Künstlerin Michèle Pagel mit dem in Moskau sehr virulenten Thema häusliche Gewalt und Mißhandlung. Der aktuelle Prozess gegen drei Teenager, die ihren sie mißhandelnden Vater ermordeten oder das Faktum, dass der erste Gewaltakt eines Mannes gegen seine Frau nicht polizeilich geandet wird, bilden den Anlass für die künstlerische Auseinandersetzung, die unter dem Titel „Polly wants a cracker“ in Simon Mraz Privatwohnung unweit vom Kreml stattfand und in Zusammenarbeit mit örtlichen NGOs unter regen Interesse der örtlichen Medien ablief.

Mehr Texte von Ursula Maria Probst

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