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Daumenregel

Er hängt schlaff herab. Ein Hautfetzen, leer und kraftlos wie ein geplatzter Ballon. Vorher zeigte er noch stolz nach oben. Bei Ed Atkins schraubt er sich sogar um die eigene Achse, sodass er zur Fessel seiner Selbstüberschätzung wird: der Inbegriff der Gegenwart, das Synonym für alle Likes: der Daumen. Es ist kein geringerer als Michel de Montaigne, der schon zu Ende des 16. Jahrhunderts dem Daumen eine brisante kulturhistorische Beobachtung widmet. In seinen »Essais« sinniert er über eine fast vergessene römische Gepflogenheit, sich zu verständigen. Freundschaft sei in der Antike durch den Daumen besiegelt worden. Nein, nicht so wie Sie jetzt denken: an die Imperatoren im Stadion oder an österreichische Parteichefs und Finanzminister a.D.. Die Daumen wurden bei den Römern gekreuzt, dann stark gegeneinander gedrückt, bis das Blut nach oben quoll und dann noch an den Kuppen eingeschnitten. Will heißen, die Römer vertrauten auf Blutsbrüderschaft wie Winnetou, auf eine Übertragungsleistung aus Teilen ihrer DNA, auf eine wohlmeinende Infektion. Damit waren die Daumen amikaler Siegel und zugleich immerwährende Immunitätsaufhebung. Dies zeitigt Konsequenzen, nicht nur in Zeiten wechselseitiger Befriedung. Montaigne erklärt warum: wer nämlich seinen Daumen verliert, wird vom Kriegsdienst freigesprochen. Denn der fehlende Daumen führt zur Untauglichkeit im Umgang mit dem Schwert und ergo zu einer Impotenz in Freundschaftsbanden. Denn es ist der Krieg, in dem sich die Bünde zu festigen haben. Deshalb mag Daumenlosigkeit eine vortreffliche Lösung für Pazifisten sein, war aber verheerend für jene, die sich dem Wettbewerb in einem militanten Gemeinwesen nicht stellen konnten.

Die Daumen in den heutigen Chat-Protokollen sind die späten Nachfahren der Blutsbrüderschaft des Altertums. Meist in Kermitgrün oder schrillem Gelb, sind sie zwar weniger kriegerisch, aber immer noch kumpelhaft, phallozentrisch und männerbündlerisch. Als Abziehbilder werden sie jedoch schneller gezückt, eine billige Billigung, weil kontextabhängig, kurz und bündig. Im Grunde sind sie nicht mehr als Grußformeln der wohlmeinenden Zustimmung. Darin werden sie mit Gesten vergleichbar, mit denen früher – in mehr von Etikette geprägten Kulturen – jemand “Chapeau” oder “Hört Hört” ausrief, tatsächlich den Hut lüpfte oder sich mit einer Körperneigung empfahl. Damit klar gestellt ist: den-Diener-Machen ist keine zeitgemäße Formel der Würdigung. Emoticons sind auch kein Rückfall der Kulturgeschichte, sie sind Bestandteil der digitalen Alphabetisierung. Ähnlich wie die Mimik, der sie nachempfunden sind, gibt es kaum ein Zeichenmaterial, das die eigene Reaktion und Haltung so umstandslos vermittelt. Und gerade darin liegt die Gefahr. In der Unbedenklichkeit, mit der der Daumen etwas schneller bestätigt, als es die Komplexität der Verständigung verlangt. Und so kommt man übers Kreuz. Und das Bluten folgt danach.

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Abbildung: Ed Atkins: Even Pricks, Videostill, 2013 © the artist, Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin; Cabinet Gallery, London; Gavin Brown’s Enterprise, New York/Rom; dépendance, Brüssel.

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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