Oliver Ressler - What is Democracy?: A real democracy would look quite different
„Zuerst müssen wir an den ökonomischen Belangen arbeiten, wir müssen die gesellschaftliche Basis verändern, die Wurzeln der jetzigen Situation. Denn direkte Partizipation an Entscheidungsprozessen erfordert ein höheres Partizipationslevel, ein höheres Bewusstseinslevel, mehr Aktivität und ein höheres Wissenslevel über aktuelle Ereignisse. Das ist jetzt absolut nicht möglich.“, erklärt Macha Kurzina (Moskau) in Oliver Resslers Video What is Democracy.
Demokratie ist ein Begriff, ein System, ein Zustand. Unsere Aufmerksamkeit ist gefordert. Demokratie ist „Volksherrschaft“ und Gegenstand einer Ausstellung in der Needle des Kunsthaus Graz. Einen geeigneteren Ort für diese Arbeit kann es kaum geben. Der österreichische Künstler Oliver Ressler, der seine künstlerische Praxis als politische Stellungnahme und Aufruf zum Widerstand versteht, hat bereits 2009 „What Is Democracy?“ zur Diskussion gestellt und mögliche Antworten aufgezeichnet. Es besteht kein Zweifel, dass eine Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung zehn Jahre später nur umso dringlicher erscheint. Ein komplexes, ein abstraktes Thema, das sich nicht einfach darstellen und klären lässt. Es bedarf einer historischen wie auch theoretischen und praktischen Analyse, die Ressler in Form dieser Mehrkanal-Videoinstallation liefert.
Demokratie ist diejenige Staatsform, die alle Staatstätigkeiten auf die Volkssouveränität zurückführt und in der Regierungsgewalt vom Willen des Volkes ausgeht. Zur Ermittlung des Volkswillens dienen Wahlen und Volksabstimmungen. Dass diese Methoden wenig Absicherung bieten, beweisen unsere Erfahrungen wie auch die Befunde von Wolf Dieter Narr (Berlin), der anhand von Abschiebegefängnissen seinen Standpunkt klar macht: „Dass es so etwas gibt, ist in jeder Hinsicht ein menschenrechtlich-demokratischer Skandal. Dass das legal ist, zeigt, dass repräsentative Demokratien von Grund auf falsch konstruiert sind.“ Er räumt ein, dass das mit einem Widerspruch der repräsentativen Demokratien zu tun hat, nämlich „dass diese über das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit verfügt – also über die Grenzsicherung nach innen und außen und die Abwehr alles dessen, was dieser Staat – aus welchen Gründen auch immer – heute nicht will. Am leichtesten kann dieser Legitimation herstellen in einer Bevölkerung, die nicht aufgeklärt ist, ihrerseits ausgebeutet wird und in vielerlei Hinsicht ungleich ist, und indem diese Ungleichheit innerhalb der entwickelten Gesellschaften weiter zunimmt.“
Historisch reicht die Idee der Demokratie bis in das antike Griechenland zurück und war bis ins 19. Jahrhundert ausschließlich eine direkte Herrschaft durch die Bürger. Seit der Übertragung auch von Regierungsfunktionen auf Parlamente (zuerst im 18. Jahrhundert in den Staaten Nordamerikas), nennt man auch Republiken oder konstitutionelle Monarchien mit weitgehender parlamentarischer Kontrolle Demokratien. Als demokratisch im weitesten Sinne bezeichnet man daher heute Machtverhältnisse, in denen Staatstätigkeiten (Ausarbeitung der Verfassung, Gesetzgebung und -durchführung, Staatsleitung und -verwaltung) vom Volk durch die Wahl von Vertretern (Repräsentanten) und Vertretungskörperschaften ausgeübt wird, die auf mannigfache Weise (direkte und indirekte Wahlen und Abwahlen, Persönlichkeits- und Listenwahlen) zustande kommen und verschieden zusammengesetzt sind (Ein- oder Zweikammersystem, Rätesystem). „Demokratisch“ nennt man ferner innere Meinungsbildungsprozesse und Beschlussverfahren in Organisationen und Verbänden, zu welchen alle Mitglieder chancengleichen Zugang haben und in denen sie gleichberechtigt mitwirken können.
„Wir sagen noch immer, in einer liberalen Demokratie könne, je nach dem System, über das wir gerade sprechen, jeder Premierminister oder Präsident werden. Und das bestreitet auch niemand. Wenn wir nun aber an die politische Arena der Massengesellschaft denken, haben wir viele Körper, die unterschiedlich sind und nicht dasselbe wollen oder über sich selbst in derselben Art und Weise denken.“, betont Lin Chalozin Dovrat (Jaffa). „Wir sind nun in einer Phase, in der die liberale Demokratie sagt, wir sorgen für ein faires Spiel, in dem alle sich eines gleichen Ausgangspunktes erfreuen können. Aber es herrscht eine Spannung zwischen dieser Erzählung und der Realität. Bei der repräsentativen Demokratie haben wir es mit etwas zu tun, das einfach nicht hineinpasst. Wir sagen: Wenn mich jemand vertritt, heißt das, wir haben dieselben Interessen – und: Die Personen, die mich vertreten, die Volksvertreter, sind sich ihrer Interessen auch voll bewusst. Das führt folglich zur Annahme, diese Vernünftigkeit der Interessen sei völlig allgemeingültig. Nur stellt sich die Frage: vernünftig in wessen Sinne? Die ganze Idee an sich kann in Bezug auf die soziale Mobilität, für die sie steht, einfach nicht aufgehen. Wir müssen uns erneut über das Spiel Gedanken machen und darüber, welches Spiel wir gerne hätten. Wenn wir den Boxkampf-Gedanken mal beiseite lassen, können wir vielleicht auch über unterschiedliche Ausgangspunkte nachdenken und diese berücksichtigen. Doch im formalen Rahmen des aktuellen Systems lässt sich das nicht vorstellen, weil alle Bewegungsmuster dieses Systems für einen Boxkampf konzipiert sind, in dem zwei identische Körper vom gleichen Ausgangspunkt aus miteinander kämpfen.“
Also: Wir brauchen einen weit gefassten Demokratiebegriff. Nikos Panagos (Thessaloniki) nennt diesen „Umfassende Demokratie“: „Wenn die Freiheit das höchste Ziel des Menschen ist, und wir Freiheit als auf individuelle und kollektive Autonomie beruhend definieren, dann ist der Konnex zwischen Autonomie und Freiheit unvermeidlich, weil das autonome Individuum die ‚Gesetze‘ für sich selbst macht, d.h. einen gleichberechtigten Part im Entscheidungsfindungsprozess innerhalb der Gesellschaft übernimmt. Aber autonome Individuen können nur innerhalb einer autonomen Gesellschaft existieren. Eine Gesellschaft ist dann autonom, wenn sich deren Individuen bewusst sind, dass sie Institutionen geschaffen haben und selbst demokratische Institutionen schaffen können, die eine gleiche Machtverteilung unter ihren Bürgern sicherstellen. Es lässt sich eine ‚Umfassende Demokratie‘ daher nur in Form der ‚Volksversammlung’ organisieren, d.h. Volksversammlungen von Angesicht zu Angesicht.“
„Was ist Demokratie“ lautete die Frage, die Ressler verschiedenen Aktivisten und politischen Analysten in 18 Städten stellte und die das westliche Demokratiemodell aus unterschiedlichen Perspektiven verhandelt. Das Ergebnis macht deutlich, dass wir zwar in einer Form der Demokratie leben, aber diese wenig mit der Freiheit des Individuums zu tun hat. Wir sollten uns also auf die Suche nach geeigneteren Formen der Beschreibung dessen machen, wie wir uns unsere Zukunft vorstellen.
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Titelgebendes Zitat: Rick Ayers (Berkeley)
04 - 29.09.2019
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