
Rossella Biscotti - The City: Die losen Enden der Geschichte
Die italienische Künstlerin Rossella Biscotti (*1978) verbindet in ihren Arbeiten zeitliche Dimensionen, fragt nach der Bedeutung des Vergangenen für das Gegenwärtige und fügt die an einem spezifischen Ort stattgefundenen Ereignisse in das Bedeutungsnetz der Jetzt-Zeit ein.
In der daadgalerie Berlin zeigt sie aktuell ihre 5 Kanal-Video-Installation The City, in welcher die verschiedenen Zeiten eines Ortes auf besondere Weise ineinandergreifen.
Zwischen 2014 und 2016 besuchte Biscotti mehrmals die archäologische Ausgrabungsstätte Çatalhöyük im südlichen Anatolien, um die Arbeit des Teams um den Sozialanthropologen Ian Hodder zu begleiten.
Die neolithische Siedlung ist das früheste heute bekannte urbane Zentrum der Welt und war über einen Zeitraum von fast 2.000 Jahren (ca. 7.500 – 5.700 v. Chr.) bewohnt. Mitunter befand sich hier eine Proto-Stadt mit annähernd 10.000 Bewohner*innen.
Hodder und sein internationales, interdisziplinäres Team erforschen seit 1993 die Lebens- und Arbeitsweise der antiken Gesellschaft von Çatalhöyük, die sich durch eine ausgeprägte Aufgabenverteilung auszeichnete und vermutlich kaum eine Hierarchisierung aufgrund von sozialen Status und Geschlecht vornahm. Dieser egalitäre Gesellschaftsentwurf wird im ersten Teil der 50-minütigen Installation The City eng mit dem Funktionieren der Forschungsgemeinschaft verwoben: Die dokumentarischen Aufnahmen, „Film-Notizen“, wie Biscotti sie bezeichnet, entstanden während ihren Besuchen der Ausgrabungsstätte vor 2016 und vermitteln einen Einblick in Hodders Ansatz einer prozessualen Archäologie, die sich durch flache Hierarchien, interdisziplinären Austausch und gemeinsame Autorschaft auszeichnet. Die im Ausstellungsraum auf fünf Projektionen gezeigten Sequenzen versetzen die Besucherin gewissermaßen an den Ort des Geschehens, man wird Beobachterin des kollektiven Bemühens, eine vergangene Zivilisation anhand ihrer materiellen Spuren zu begreifen. Die nicht-lineare Anordnung der filmischen Bilder und der Tonspuren verdeutlichen das Handwerkliche, Körperliche, aber auch das Diskursive der Forschungsarbeit. Die Körper der Forscher*innen, die auf dem Boden liegend die alten Gräber untersuchen, ihre arbeitenden Hände, die Geräusche ihrer Tätigkeiten und ihre Stimmen, anhand derer die Besucherin Informationen über Çatalhöyük erhält, werden in The City zu einer losen Narration angeordnet. Die Erzählstränge zweier auf Gleichheit basierender Formen des Miteinanders kreuzen sich.
Während Biscotti die Ergebnisse ihrer Recherchen häufig in Objekte, Installationen und Performances übersetzt, sind die „Film-Notizen“ hier unmittelbarer Bestandteil der Arbeit. Dies jedoch aus unvorhersehbaren Gründen, so erfährt man im Begleittext:
Der erste Teil der Erzählung endet mit der Aufnahme einer Teamsitzung im Juli 2016. Aufgrund des Putschversuchs des türkischen Militärs und dem damit verbundenen Risiko für die Sicherheit des Teams verkündet Hodder das vorzeitige Ende des Forschungsvorhabens. Biscotti ist anwesend – im Anschluss an die Recherchebesuche 2014 und 2015 sollte dies der erste Tag ihrer tatsächlichen Filmarbeiten werden. Das unerwartete Ende zwang die Künstlerin zum Umdenken und zur Änderung des Scripts. Die Bilder der zweiten Hälfte der Arbeit unterscheiden sich stark von den vorangegangenen. Ruhige Aufnahmen einer verlassenen Landschaft, eine menschenleere Ausgrabungsstätte, in der sich unzählige Sandsäcke zum Schutz der Architektur aufeinanderstapeln. Die Abreise wird vorbereitet, Fundstücke werden katalogisiert und digitalisiert. Der gemeinsame Ort, das unmittelbare Miteinander wird durch Distanz ersetzt, die mithilfe der online zur Verfügung gestellten Forschungsergebnisse überbrückt werden soll.
Erneut wird Çatalhöyük verlassen. Erneut schreiben sich eine Zeit und ihre Besonderheiten in den Ort ein.
19.01 - 13.03.2019
daadgalerie
10969 Berlin, Oranienstraße 161
Tel: +49-30-20220827
http://www.daadgalerie.de
Öffnungszeiten: 12-19 h