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Chto Delat - Zeitkapsel. Künstlerische Berichte über Katastrophe und Utopie: Zurück in die Zukunft oder: Die Mengenlehre der Gemeinschaft

Das russische Kollektiv Chto Delat, kommend aus Kunst, Aktivismus und politischer Theorie, ist dafür bekannt sich mit komplexen gesellschaftskonstituierenden Themen zu befassen um in ihnen nach emanzipatorischen Handlungsräumen, politische wie künstlerische, lokale wie globale, zu suchen. Inwieweit Kunst ein Dispositiv für Veränderung darstellt bzw. welche ästhetischen Kanäle diese einfordert, wurde in elf Jahren Schaffen in vielfältigen Ausprägungen durchexerziert: Interventionistisch, aktionistisch, partizipativ, performativ, theatralisch, theoretisch, filmisch oder skulptural. Im Zentrum der Secessions-Schau „Zeitkapsel. Künstlerische Berichte über Katastrophe und Utopie“ steht eine dichte Rauminszenierung mit neuen Arbeiten. Flankiert wird diese von einer umfangreichen Dokumentation ihres Wirkens. Videoausschnitte, Poster, Zeitschriften treffen auf bühnenartige Re-Inszenierungen in Miniaturform. Diesen Teil sollte man allerdings nicht unbedingt retrospektiv lesen. Vielmehr gehört die Aktualisierung der eigenen Arbeit zum Selbstverständnis der künstlerischen Praxis - in der Überzeugung, dass die Auseinandersetzung mit Archiv und Historisierung Fundamente politischen und künstlerischen Lebens sind. Vor allem die Erzähltechnik der Historisierung, also die Betrachtung eines Gesellschaftssystems aus Sicht eines anderen, findet jüngst als Schlüssel für Wissensproduktion verstärkt seine Anwendung. Bereits im Sommer 2014 führte die Gruppe anhand des „Russen-Denkmals“ am Schwarzenbergplatz eine Debatte über ideologisierte Erinnerungspolitik, welche nun mit assoziativen Strängen und Querverweisen im Hauptraum eine Weiterführung erfährt. Entsprechend positionieren sich Chto Delat dort als ChronistInnen im Sinne Walter Benjamins Kritik am historischen Materialismus, die sich gegen Geschichte als statisch verwaltbares Bild und einer sich darin behaupteten ‚historischen Wahrheit' richtet - wodurch „Katastrophe“ als auch „Utopie“ des Titels in mehreren Lesarten dialektisch zu verstehen ist. Die Chiffre dafür ist die am Podest stehende „Zeitkapsel“ mit verschlossenen Botschaften an die Zukunft. Sie bezeichnet das Gegenmodell zur linearen Zeit-Raum Achse und somit den utopischen Moment, der umringt ist von einer Landschaft aus überdimensionierten Papp-Tableaus aktueller Medienbilder von Ebola-Opfern, IS Kämpfern, Aktivistinnen auf dem Kiewer Maidan und einem überragenden zombiartigen Torso. Was auf den ersten Blick wie ein didaktisches Sittenbild anmutet, ist auch so gemeint. „Was ist zu tun?“ (so auch die Übersetzung von „Chto Delat“) (1) in einer Zeit der permanenten Katastrophen und Kriege, wenn politische Versprechen großer historischer Utopien, verpasste Revolutionen, wie die der Perestroika, im Sand verlaufen sind? Hinter der theatralischen Inszenierung im Eingangsbereich eröffnet die Vier-Kanal-Videoinstallation The Excluded. In a Moment of Danger kein wesentlich positiveres Bild jedoch eines, das angesichts der repressiven nationalistischen Putin Administration in der aufkeimenden Atmosphäre des Kalten Kriegs da wie dort Ansätze bietet, dem Ausgeliefertsein oder Ohnmacht des Einzelnen entgegenzuwirken. Gemeinsam mit Studierenden ihrer 2013 in St. Petersburg gegründeten „Schule für engagierte Kunst“ spannen Chto Delat in 12 Episoden einen Bogen, der mit wenigen simplen wie symbolträchtigen Versatzstücken – und dem epischen Theater Brechts verpflichtet – auskommt um eindrucksvoll eine beklemmende Geschichte über russische Gegenwart und Vergangenheit, den kollektiven Körper, seine Verletzlichkeit, seine Post- und Prä-Traumata zu erstellen. Dabei treffen Mechanismen von (alten) Feinbilder auf eine neue global vernetzte Social-Media Generation um letztendlich herauszufinden, dass in der Spekulation über Täterschaften jeder jeden beschuldigt, je nach persönlichem oder ideologischem Feindbildprofil und somit jeder für sich steht, ob als vermeintlicher Täter oder als Opfer. Jedoch gemeinschaftliches Handeln kann selbst dem Scheitern von Revolutionärem eine produktive Kraft verleihen. Und das ist auch der Motor des Kollektivs, das um dies zu bekräftigen, wenn notwendig auf die Rhetorik des emotionalen Appells zurückgreift, zugleich jedoch immer auf der Suche nach einer neuer Sprache ist. -- (1) Chto Delat ist der Titel des gesellschaftskritischen Romans Was tun? von Nikolai Tschernyschewski (1863), den Lenin später für sein Schlüsselwerk verwendete.
Mehr Texte von Maren Richter

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Chto Delat - Zeitkapsel. Künstlerische Berichte über Katastrophe und Utopie
21.11.2014 - 25.01.2015

Secession
1010 Wien, Friedrichstrasse 12
Tel: +43 1 587 53 07, Fax: +43 1 587 53 07-34
Email: office@secession.at
http://www.secession.at
Öffnungszeiten: Di-So 14-18 h


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