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DISLOCACIÓN. Kulturelle Verortung in Zeiten der Globalisierung: Forschungsarbeit an gesellschaftlichen Bruchstellen

Anlässlich der Feiern zur 200-jährigen Unabhängigkeit Chiles, wurde die chilenisch-schweizerische Künstlerin Ingrid Wildi Merino von der Schweizer Botschaft in Chile eingeladen, eine Ausstellung zu entwickeln. Davon ausgehend haben sich 14 Kunstschaffende beider Länder in einer vier Jahre andauernden künstlerischen Forschungsarbeit eingehend mit den politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ursachen, Bedingungen und Folgen von Migration auseinandergesetzt. Die so entstandenen Kunstwerke waren im September 2010 in der Präsentationsform einer Biennale an unterschiedlichen Standorten in Santiago de Chile zu sehen. Nun wurde die Ausstellung mit dem Titel „Dislocatión“ quasi ihrer eigenen Thematik unterzogen, indem sie als Ganzes in die Schweiz und an einen einzigen Standort ins Kunstmuseum Bern dislozierte, was gezwungenermaßen zu Neukonzeptionen und Anpassungen von Werken führte. Die in Bern durch Kuratorin Kathleen Bühler betreute Schau stellt hohe Ansprüche an Publikum und Kunst. Doch für keinen der Kunstschaffenden dient die Thematik als ‚gutmenschelndes Feigenblatt’, arbeiten sie doch alle schon seit Jahren in entsprechenden Bereichen, was sich in der Dringlichkeit und Kohärenz der Werke manifestiert. „Dislocatión“ bedeutet Verschiebung, Deplatzierung und in einem medizinischen Sinn auch Verrenkung. Den Gründen der Entwurzelung zahlreicher Menschen spüren Marie-Antoinette Chiarenza und Daniel Hauser von der Gruppe RELAX nach und orten sie primär in der neoliberalen Wirtschaftsform, auf die Chile nach dem Militärputsch Pinochets gegen das sozialistische System Allendes im Jahre 1973 als erstes Land der Welt systematisch ausgerichtet wurde. Mit Humor entlarvt die Installation aus Dokumenten, Videos und Stationen zum Mitmachen, wie ein Denken, das primär den Nutzen gegen die Kosten abwägt, den Menschen außen vor lässt und zu einem Glücksspiel wird, das nicht zu gewinnen ist. Noch immer leidet die chilenische Bevölkerung an der traumatischen Erfahrung der Diktatur. Camilo Yáñez’ melancholische Kamerafahrt ist Erinnerungsarbeit: Das Nationalstadion in Santiago de Chile diente während des Putsches als Konzentrationslager. Tausende Menschen verloren dort ihr Leben, so auch Sänger Víctor Jara, dessen bekanntes Lied „Luchín“ die Bilder des leeren Stadions kurz vor der Renovierung begleitet. Den nicht verheilten Bruch in der Gesellschaft, die bis heute von großer Ungleichheit geprägt ist, nimmt Thomas Hirschhorn auf, indem er das Statussymbol eines Ford Rangers entzweischneiden ließ. Notdürftig hält Klebeband die verschobene Stelle zusammen. Trotz überzeugenden Resultaten: Der Ausstellung mangelt es nicht an Selbstkritik, wird doch in einem Künstlerinterview bei Mario Navarros „Radio Ideal“ zu Protokoll gegeben, dass unterschiedliche Kommunikationskulturen nicht unbedingt einfache Rahmenbedingungen für solch ein Projekt schufen. Freilich kann die Ausstellung aus dem System, welches sie hervorgebracht hat, nicht ausscheren. Als Prestigeobjekt der Pro Helvetia, das international anerkannten Künstlern eine Plattform bietet, teilweise verkäufliche Werke auszustellen, ist auch „Dislocatión“ trotz seiner sozial engagierten Themen Teil eines globalen Ausstellungswesens mit all seinen Problemen. Die an der Ausstellung beteiligten Kunstschaffenden diskutieren am Beispiel Chiles Fragen von weltumspannender Relevanz und verleihen abstrakten Phänomenen der Globalisierung unterschiedliche Gesichter sowie einprägsame künstlerische Formen. Manchmal wird man in den Ausstellungsräumen von allen möglichen Kanälen und Tonspuren gleichzeitig drangsaliert, die Komplexität der Gegenwart will ausgehalten werden. Eigentlich ist diese Ausstellung eine Zumutung, eine Überforderung, und das ist gut so. Sie zwingt den Besucher, sich auszusetzen, sich einzulassen, hinzuschauen und sich auseinanderzusetzen, was über ein bloß oberflächliches ‚Sich-Berieseln-lassen’ nicht zu leisten ist.
Mehr Texte von Sylvia Mutti †

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DISLOCACIÓN. Kulturelle Verortung in Zeiten der Globalisierung
18.03 - 19.06.2011

Kunstmuseum Bern
3000 Bern, Hodlerstrasse 12
Tel: +41 31 328 09 44, Fax: +41 31 328 09 55
Email: info@kunstmuseumbern.ch
http://www.kunstmuseumbern.ch
Öffnungszeiten: Di 10.00 - 21.00, Mi - So 10.00 - 17.00


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