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Pauline Boudry und Renate Lorenz, Contagious!: Über die Auslegung einer «Iconographie Photographique»

Im Rahmen der Ausstellung «ACCROCHAGE [VAUD 2010]» gewann die 1972 geborene Lausannerin Pauline Boudry den Preis der Jury und erhielt damit die Gelegenheit in der diesjährigen Jahresausstellung des Musée cantonal des Beaux-Arts in Lausanne einen Raum zu bespielen. Dieses Konzept stellt jungen Kunstschaffenden, ähnlich wie beim Schweizer Manorpreis, einen adäquaten zeitlichen und räumlichen Spielraum zur Realisierung eines Ausstellungsprojektes zur Verfügung. Das Künstlerinnenduo Pauline Boudry und Renate Lorenz zeigt in Lausanne eine Installation mit dem Titel «Contagious!» [Ansteckend!] und lenkt damit die Aufmerksamkeit auf eine Eigenschaft, die ebenso physische Krankheiten als auch Gemütsverfassungen wie gute oder schlechte Laune beschreibt. Die Bildsprache ist anziehend, sehr eigen und fordert Aufmerksamkeit über einen flüchtigen Blick hinaus. Eine Sitzbank steht bereit. «Contagious!» besteht aus einer Videoarbeit und einer Serie von Fotografien, die vor dunkelgrau gestrichenen Wänden gezeigt werden. Beide Werkteile beziehen sich auf Schauplätze und Begebenheiten, die im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts angesiedelt sind: Boudry und Lorenz stiessen auf Archivmaterial der damals angesehenen psychiatrischen Anstalt «La Salpêtrière». Ausgehend von den Aufzeichnungen «Iconographie Photographique de la Salpêtrière» (1877-1880) inszenierten sie für ihr Video eine Wiederaufführung sogenannter ‹epileptischer Tanzsequenzen›. Hierfür haben die Künstlerinnen zwei Performer als burleske Varietétänzerinnen auf einer Berliner Clubbühne auftreten lassen. Die Zeitebene des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts und der Gegenwart verschmelzen im Video: Wechselnde Schnitte zeigen ein auf Gegenwart gestyltes Publikum des 21. Jahrhunderts, das sich von den Gesten der Tänzer animieren lässt. Ebenso verschwimmen das bipolare Geschlechtersystem, sowie die Einordnungen von Klasse und Ethnie. Mit dieser Rekonstruktion liefert das Künstlerinnenduo auch einen prägnanten Kommentar über die Zuordnung von Verhalten in die Kategorien ‹normal› oder ‹abnormal› jenseits abgeschlossener Zeitepochen. Diagonal gegenüber bieten elf Kastenrahmen einen fotografischen Vergleich. Abfotografierte Doppelseiten aus den drei Bänden «Iconographie Photographique de la Salpêtrière» zeigen Schwarz-Weiss-Aufnahmen von Frauen, bei denen Hysterie diagnostiziert wurde. Wie Buchzeichen, legten die Künstlerinnen auf die aufgeschlagenen Buchseiten Postkarten von Tanzveranstaltungen sowie Fotos halbbekleidet posierender Tänzerinnen der 1870-90er Jahre. Die fliessende Grenze zwischen wissenschaftlicher Abbildung und pornographischer Schaulust wird damit deutlich vor Augen geführt. Das Verschwinden von Eindeutigkeit spiegelt sich auch in der Paradoxie des Werktitels: Die Gefahr und Angst vor der Infizierung mit körperlichen Krankheiten ist damit ebenso angekündigt wie die gewollte Ansteckung mit einer anregenden Stimmung. Die Installation ist eine Reise nach Lausanne wert – Arbeiten von Pauline Boudry und Renate Lorenz werden uns glücklicherweise auch an der Biennale Venedig 2011 begegnen und sicher noch an vielen anderen Orten.
Mehr Texte von Marianne Wagner

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Pauline Boudry und Renate Lorenz, Contagious!
22.01 - 20.02.2011

Musée cantonal des Beaux-Arts
1014 Lausanne, Palais de Rumine, place de la Riponne 6
Tel: +41 21 316 34 45, Fax: +41 21 316 34 46
http://www.mcba.ch
Öffnungszeiten: Di-Mi 11-18, Do 11-20, Fr-So 11-17, Mo geschlossen


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