Werbung
,

Anatoly Shuravlev - Temporary Visual Wound: Phantomschmerzen

Der letzte Satz der Ausstellungsbesprechung zum russischen Pavillon an der 53. Biennale Venedig 2009 in der Zeitschrift „Kunstforum“ hat es in sich. Er gilt der Installation des Konzeptkünstlers Anatoly Shuravlev, der Glaskugeln wie Christbaumschmuck an kaum sichtbaren Fäden in einer filigranen, schwebenden Wolke angeordnet und warm ausgeleuchtet im sonst dunklen Raum von der Decke baumeln ließ. In jeder Kugel befand in sich ein fotografisches Miniaturporträt einer bedeutenden Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts, begonnen bei Ghandi über Einstein bis hin zu Elvis und Obama. Doch die intendierte magische Stimmung zündete bei der Kritikerin nicht: „Aller Berühmten und Wichtigen zum Trotz ist diese Installation aber leider nicht mehr als eine belanglose, dekorative Angelegenheit.“ Ein harsches Urteil, dessen Überprüfung derzeit anlässlich der ersten Einzelausstellung Shuravlevs in der Schweiz im Bieler Centre PasquArt möglich ist. Und auch hier findet man sie wieder; wie ausgestanzte Konfetti ergießen sie sich in allen erdenklichen Variationen über die Ausstellungssäle, in viereckige, runde oder wolkige Plexiglasobjekte eingefügt, an Wänden angebracht oder in C-Prints integriert: kleine analog abfotografierte Porträtbilder von rund einem Zentimeter Durchmesser bekannter und unbekannter Menschen. Und genau in dieser unendlichen Wiederholung des nicht gerade variantenreich eingesetzten Markenzeichens liegt auch das Problem des ästhetisch auf Hochglanz getrimmten Werkkomplexes mit Arbeiten aus den vergangenen fünfzehn Jahren. Shuravlev betreibt das, was man gemeinhin als „Weltkunst“ bezeichnet. Der 1963 in Moskau Geborene pendelt heute zwischen seiner Heimatstadt und der Künstlermetropole Berlin. Nicht nur in seiner Biografie lässt sich das globale Nomadentum feststellen, dem sich zeitgenössische Kunstschaffende zuweilen verschreiben, sondern auch in seinen Arbeiten: So entnimmt er beispielsweise die Vorlagen für seine Bildcollagen den Massenmedien, lässt hier ein bisschen Tibet, dort ein bisschen China, ein wenig Indien, Hollywoodstars oder bekannte Größen aus der Geschichte der Kunst einfließen. Mit diesen allseits bekannten, aber nicht konkret verortbaren Themenkreisen scheint er sich am Puls der Zeit zu bewegen und die Arbeiten sind zumindest in weiten Teilen der westlichen Hemisphäre gut verständlich – wenn man denn nur wüsste, worum es dem Künstler eigentlich geht. Für eine tiefer greifende Interpretation bietet der lausig verfasste Ausstellungsführer, eine eigentliche Phrasen-Dreschmaschine, keine wirkliche Hilfe, bleibt der Text doch an der Oberfläche haften, womit einen langsam aber sicher der Verdacht beschleicht, dass es sich mit der Kunst nicht anders verhält. Oder tut man ihr Unrecht? Shuravlev drängt einem mit seinen Miniaturbildchen eine Betrachtung aus der Nähe ja direkt auf, doch geht dann das, was man zu Gesicht bekommt, wenn man eingehend hinschaut, nicht in die Tiefe, sondern öffnet sich im Gegenteil hin zur Beliebigkeit. Da blickt man immer wieder in vor Schmerz oder Lust verzerrte Gesichter, trifft auf Miniatur-Totenschädel oder die gebleckten Zähne von einem Haifisch, auch dieser natürlich im putzigen Mini-Format gehalten. Wenn mit bedeutungsvoller Geste und Pathos auf das Evozieren nicht minder großer Gefühle zwischen Anziehung und Abwehr gezielt wird, verknüpft mit einer zweifelsohne gefälligen Ästhetik, dann sehnt sich der geneigte Betrachter den ironischen Bruch förmlich herbei, der die aufgeladene Stimmung etwas entspannt. Bleibt dieser aus, dann hat man es mit einem durchaus kunstwürdigen Phänomen zu tun: mit Kitsch. Überhaupt gibt es viel Drama in dieser Ausstellung: „Temporary Visual Wound“ heisst die Raumintervention in der riesigen Salle Poma, die mit einer Horizontlinie aus schwarzer Farbe gewissermaßen verletzt, ja zweigeteilt wird. Eine starke malerische Geste! Liegt es wohl an den inflationär in die runterlaufenden Rinnsale integrierten Fotobildchen, dass diese Wunde nicht so recht schmerzen will?
Mehr Texte von Sylvia Mutti †

Werbung
Werbung
Werbung

Gratis aber wertvoll!
Ihnen ist eine unabhängige, engagierte Kunstkritik etwas wert? Dann unterstützen Sie das artmagazine mit einem Betrag Ihrer Wahl. Egal ob einmalig oder regelmäßig, Ihren Beitrag verwenden wir zum Ausbau der Redaktion, um noch umfangreicher über Ausstellungen und die Kunstszene zu berichten.
Kunst braucht Kritik!
Ja ich will

Werbung
Werbung
Werbung
Werbung

Anatoly Shuravlev - Temporary Visual Wound
16.01 - 20.03.2011

Kunsthaus Pasquart
2502 Biel / Bienne, Seevorstadt 71 Faubourg du Lac
Tel: +41 32 322 55 86, Fax: +41 32 322 61 81
Email: info@pasquart.ch
http://www.pasquart.ch
Öffnungszeiten: Di, Mi,Fr 12-18, Do 12-19, Sa 11-18 h


Ihre Meinung

Noch kein Posting in diesem Forum

Das artmagazine bietet allen LeserInnen die Möglichkeit, ihre Meinung zu Artikeln, Ausstellungen und Themen abzugeben. Das artmagazine übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt der abgegebenen Meinungen, behält sich aber vor, Beiträge die gegen geltendes Recht verstoßen oder grob unsachlich oder moralisch bedenklich sind, nach eigenem Ermessen zu löschen.

© 2000 - 2024 artmagazine Kunst-Informationsgesellschaft m.b.H.

Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Gefördert durch: